Gesundheitspersonal in der Corona-Krise«Es geht um die Würde der Menschen»
Die Notfallärztin Jana Siroka betreut Covid-Kranke in Arlesheim. Die Angst aus der ersten Welle hat sie überwunden, nun macht ihr aber die psychische Belastung der Gesunden grosse Sorgen.

Die Krankheit begann eigentlich ganz untypisch. Mit einer Magenverstimmung und Kopfschmerzen. Ohne Husten. Ohne Atemprobleme. Dennoch ahnte Jana Siroka, mit was sie sich da infiziert hatte. Ein Test brachte die Bestätigung: Covid-19 positiv. Das war Anfang November, Siroka begab sich natürlich gleich in Isolation.
Die Infektion mit dem Coronavirus nahm bei ihr einen relativ milden Verlauf. Nach ein paar Tagen waren die Beschwerden wieder verschwunden. Nach zehn Tagen konnte die Ärztin ihre Arbeit wieder aufnehmen.
Heute fühlte sie sich «absolut fit» und «wie ein Admiral, der auf der Notfallstation im Sturm segelt». Auch die Angst ist verschwunden. Jene Angst, die sie bei der ersten Corona-Welle noch so sehr quälte. Damals war Jana Siroka Notfallärztin an der Privatklinik Hirslanden in Zürich und führte ein Tagebuch. Es ist im Buch «Lockdown» erschienen, das das Tamedia-Recherchedesk über die erste Welle in der Schweiz verfasst hat.
So empfand sie die Tage der Unsicherheit im Frühjahr 2020, als in der Schweiz niemand wusste, ob der rasante Anstieg der Infektionen in den Griff zu bekommen sei:
Aus dem Tagebuch von Jana Siroka, März bis April 2020:
25. März: Ich wache jeden Morgen mit einem anderen Gefühl auf. Vor drei Tagen war es Angst. Aber nicht vor einer Ansteckung. Dass ich mich anstecke, ist relativ wahrscheinlich. Denn das Schutzmaterial ist sehr eingeschränkt. Man muss die Masken mindestens 48 Stunden tragen. Wir werden angewiesen, zwar gründlich, aber sparsam zu desinfizieren. Man kann nicht den ganzen Tag alles desinfizieren, es wird immer etwas geben, das man vergisst. Man kann auch nicht mit dem Mundschutz zu Mittag essen, auf engem Raum mit den Kolleginnen und Kollegen. In manchen Momenten muss man seinen Schutzpanzer ablegen und sich entspannen. Wir probieren alle, uns an die Hygieneregeln zu halten, so gut es geht. Aber es ist schwierig im Moment. Deshalb gehe ich davon aus, dass ich mich irgendwann anstecken werde.
Ich habe keine Angst vor dem Virus, denn ich glaube, so gesund zu sein, dass mein Immunsystem das wegstecken kann. Ich habe aber Angst vor dem, was kommt. Dass ich und mein Team davon traumatisiert werden könnten. Es ist ein Warten auf die grosse Welle. Und wir wissen nicht, ob diese Welle nur bis zu den Knien reichen wird oder ob sie wie ein Tsunami über uns zusammenbricht. Und man das Gefühl hat, zu ertrinken. Ich habe Angst um mein Team. Die Pflege ist sehr gestresst. Die Ärzte zeigen es wohl einfach weniger. Ich bin auch mit vielen anderen Spitälern im Kontakt, mit Pflegefachleuten wie mit Ärztinnen und Ärzten. Man spürt, dass die Leute sich Sorgen machen.
Vor zwei Tagen war mein Gefühl dumpf, ich war jammernd unterwegs. Gestern dann gings mir sehr gut. Ich fühlte mich wie ein Ritter, der in den Kampf zieht, zuversichtlich, dass wir es schaffen.
Seit zwei Wochen ist es so: jeden Tag andere Gefühle. Es ist intensiv, noch intensiver als sonst. Ich habe Mühe, zur Ruhe zu kommen. Vielleicht wegen meiner politischen Arbeit als Präsidentin des Verbands Zürcher Assistenz- und OberärztInnen fühle ich mich verantwortlich. Aber auch, weil wir im Spital zwar noch nicht viele Corona-Patienten haben, aber jeden Tag etwas umstellen.
Ich schlafe ein mit Gedanken, was ich noch optimieren könnte, und wache auf mit Gedanken, was ich noch planen und auf die Beine stellen müsste.
«Rädle», also rotieren, ist in gewisser Weise einfach: Man fühlt sich wirksam, organisiert eine Schulung zwischen Anästhesie und Intensivpflegestation, spricht mit der Spitalapotheke, ob genug Sedativa und Opiate an Lager sind, zerbricht sich zusammen mit den Verbandskollegen den Kopf darüber, wegen der Schutzkleidung einen Brief an den Bundesrat zu verfassen, pflegt Kontakte mit anderen Sektionen in der ganzen Schweiz. Einzelne Kolleginnen und Kollegen schreiben mich an und berichten, ihr Chef verlange jetzt Kurzarbeit von ihnen oder ihr Chef sage, sie könnten zur Arbeit gezwungen werden, obwohl sie noch im Mutterschutz sind und stillen.
Gestern, als ich arbeiten ging, war der Notfall sehr leer. Aussergewöhnlich leer. Später kamen mehrere Ambulanzen mit Patienten. Auf den meisten Notfallstationen, mit denen ich Kontakt habe, ist die Stimmung derzeit fast gespenstisch: die Ruhe vor dem Sturm. Das zehrt an den Nerven.
Es ist eine surreale Zeit für uns alle, die wir im Spital arbeiten. Gleichzeitig passieren Dinge, die Mut machen. Verkrustete Strukturen brechen auf. Jene Menschen, die mutig sind und Verantwortung übernehmen, tun dies jetzt noch viel mehr. Die Weisungen ändern halbtäglich, das schafft Verwirrung. Da braucht es Leute, die hinstehen und Verantwortung übernehmen. Diese Kraft von Menschen zu spüren, tut gut.
16. April: Ich weiss gar nicht mehr so recht, was ich zu dieser Krise sagen soll. Ich sitze in einem wunderschönen Garten, um mich die Natur in voller Pracht, und fühle Frieden in mir. Seit etwa zwei Wochen ist für mich relativ klar, dass die Welle nicht kommen wird. In den Spitälern in der Deutschschweiz ist es ruhig. Ich mache mir Gedanken darüber, was mit all den Leuten passiert, die jetzt daheim sind und sich nicht getrauen, ins Spital zu gehen, denen Komplikationen drohen, wenn sie warten. Man liest immer wieder, dass Menschen zu spät ins Spital gegangen sind. Und wenn ich denke, wie leer unser Notfall in der Hirslanden Zürich in den zwei Wochen vor Ostern war, muss ich sagen: So etwas habe ich noch nie erlebt. Tote Hose! Wir schickten unsere Assistenten reihenweise heim, in Kompensation.
Auch im Tessin entspannt sich die Lage nun deutlich. Das Welschland hingegen ist noch immer ziemlich betroffen. Aber auch dort nur punktuell: Kolleginnen und Kollegen auf den Intensivstationen und den internistischen Stationen haben viel zu tun. Andere werden haufenweise in die Kurzarbeit geschickt. Das ist für diese Ärztinnen und Ärzte eine ganz neue Erfahrung: Nicht mehr arbeiten zu dürfen. Die Arbeitslast ist sehr ungleich verteilt.
Ich selber habe mich entspannt. Ich bereite mich psychisch auf meine neue Stelle in der Klinik Arlesheim vor und auf meinen Abschied in Zürich auf dem Notfall Hirslanden, wo mir meine grossartigen Kolleginnen und Kollegen sehr ans Herz gewachsen sind. Ich bin dabei, meine Möbel zu packen. Die Pandemie fühlt sich für mich weit weg an, und meine Angst vor der Welle ist definitiv verschwunden. Ich glaube jedoch, dass uns diese Krise noch sehr lange beschäftigen wird, sowohl medizinisch als auch gesellschaftlich und wirtschaftlich.
Winter 2020: «Wir wissen jetzt, womit wir es zu tun haben»
Seit Sommer 2020 leitet Jana Siroka als Internistin und Intensivmedizinerin die Notfallstation der Klinik Arlesheim nahe der Stadt Basel. Das Spital arbeitet nach den von Ita Wegman und Rudolf Steiner aufgestellten anthroposophischen Grundsätzen und ist mit rund 550 Angestellten das grösste Privatspital im Baselbiet.
Als Siroka den letzten Tagebucheintrag im April schrieb, hätte sie nicht erwartet, dass das Virus im Herbst nicht nur zurückkommen, sondern viel, viel stärker als im Frühjahr zuschlagen würde. Und dennoch ist es so gekommen.

Mit dem Coronavirus ist Siroka nun viel direkter konfrontiert als in der ersten Welle vor einem halben Jahr. Nicht nur wegen der eigenen Erkrankung: Arlesheim ist eines der zwei Corona-Spitäler im Kanton Basel-Landschaft, Siroka und ihr Team müssen zurzeit auf einer Covid-Abteilung bis zu 20 Covid-19-Patienten betreuen, alle zwischen 70 und 100 Jahre alt.
«Im Frühjahr hatten wir grosse Angst, und es passierte wenig», erinnert sich Siroka: «Jetzt haben wir die Klinik voll mit Covid-Patienten, aber wir wissen, womit wir es zu tun haben. Wir können besser damit umgehen.» Auf der Überwachungsstation bekommen die Patienten Sauerstoff, aber intubiert werden sie in der Klinik Arlesheim nicht. Dafür werden sie in ein anderes Spital überstellt. «Viele hochbetagte Menschen wollen das auch gar nicht mehr», hat Siroka erfahren.
Angehörige dürfen die Erkrankten besuchen
Anders als in anderen Spitälern werden in Arlesheim die Angehörigen zu den Erkrankten gelassen, natürlich mit strengen Schutzmassnahmen. Die Isolation, weiss Siroka, sei für die Patienten das Schlimmste, und der Kontakt zu den Angehörigen «gehört zur Würde der Menschen».
Die Isolation. Die sieht Siroka auch als das grösste Problem bei den Nicht-Erkrankten. Vor allem bei den Jungen. Sie weiss von befreundeten Psychiaterinnen und Psychiatern, dass deren Praxen seit dem Lockdown im Frühjahr überrannt werden. Sie selbst erlebt «so viele Menschen, die in tiefer Angst leben». Das sei dramatisch. Denn aus dieser Angst heraus können leicht schwere Depressionen entstehen. Wie lange kann das eine Gesellschaft aushalten? Wie stark wird die Einsamkeit des Lockdown die Kinder von heute noch als Erwachsene prägen? Das fragt sich Siroka immer wieder.
Sie liest von Ländern wie etwa Japan, in denen die Zahl der Suizide schneller steigt als jene der Corona-Toten. In der Schweiz sei das Gesundheitssystem durch die Krise natürlich schwer belastet. Aber man dürfte die psychische Belastung der Gesunden nicht ignorieren: «Wir sollten uns bei allen Massnahmen gegen das Coronavirus doch auch immer fragen, welche Langzeitschäden wir damit anrichten können.»
Impfen? «Die Gewissheit fehlt»
Wird eine Impfung letztendlich die Lösung bringen? Wahrscheinlich nicht so schnell, antwortet die Notfallärztin. Die Phase der Testung sei extrem kurz gewesen, wichtige Fragen seien nicht geklärt: Zum Beispiel, wie lange der Impfschutz anhalte. Oder ob geimpfte Personen das Virus immer noch übertragen können. Ausserdem wisse man zu wenig über seltene oder späte Impfschäden.
«Ich will sicher sein, mit einer Impfung gesunden Menschen nicht zu schaden», sagt Jana Siroka. Im Moment habe sie diese Gewissheit noch nicht.
Recherchedesk Tamedia: Lockdown. Wie Corona die Schweiz zum Stillstand brachte – Schicksale, Heldinnen und ein Bundesrat im Krisenmodus. Wörterseh-Verlag, Lachen. 334 S., ca. 35 Fr. Das Buch auf Deutsch ist bestellbar hier.
Cellule enquête Tamedia: La première vague. Enquête au cœur de la crise du coronavirus en Suisse. Éditions Slatkine, Genève. 416 p., env. 32 fr. Das Buch auf Französisch ist bestellbar hier.
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Ich finde so ein Wort wie "das Recherchedesk" psychisch belastend. Ansonsten nehme ich selbstverordnet zur Prophylaxe einen Kräuterauszug. Der Nachweis einer Wirksamkeit des Krautes (gegen Malaria) hat einen Nobelpreis für Medizin an China gehen lassen. In Zentralasien ist es dabei seit Urzeiten bekannt und wird traditionell vielfältig angewendet. Da sie in Arlesheim arbeitet, kann man wohl schliessen, Dr. Siroka sei Anthroposophin oder stehe zumindest Einsichten und Ideen der Anthroposophie nahe. So verstehe ich ihre vorsichtige Äusserung.