
Wenn Greta Thunberg eine Rede hält, spricht sie klar und deutlich. Ohne sich zu versprechen, zu verhaspeln oder den roten Faden zu verlieren. Sie lacht nicht, verzieht keine Miene, blickt ernst ins Publikum. Egal, ob an der UNO-Klimakonferenz in Kattowitz, am Weltwirtschaftsforum in Davos oder vor dem Europäischen Parlament in Brüssel. Die von ihr initiierten Schulstreiks fürs Klima sind zur globalen Bewegung «Fridays for Future» geworden. Sie kennt kein Pardon, wenn es darum geht, den Ausstoss von Treibhausgasen zu stoppen.
Aufgrund ihres Asperger-Syndroms, einer milden Form des Autismus, sieht die 16-jährige Schwedin die Dinge entweder schwarz oder weiss. «Es gibt keine Grauzone», sagt die Zürcher Kinder- und Jugendpsychiaterin Maria Asperger Felder. Deshalb könne Greta auch so schlagend argumentieren und mache keinerlei Kompromisse. Zudem lasse sie sich von all den sozialen und emotionalen Reaktionen aus ihrem Umfeld nicht beeinflussen.

Viele Menschen mit Asperger, das in der neuen Version des medizinischen Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation unter dem Oberbegriff Autismus-Spektrums-Störung läuft, widmen sich ähnlich wie Greta einem bestimmten Thema und verfolgen dieses mit grosser Leidenschaft. «Diese Spezialgebiete machen sie ungemein interessant», sagt die Fachärztin, deren Vater Hans Asperger in den 1930er-Jahren zu den Pionieren der Autismusforschung gehörte. Fünfzig Jahre später wurde die genetisch bedingte Entwicklungsstörung nach ihm benannt. Als Studentin sei sie gern zu seinen Vorlesungen und später, wenn irgendwie möglich, auch zu seinen Vorträgen gegangen.
Sozial unter Stress
«Es ist keine Krankheit, sondern eher eine Besonderheit», erklärt Asperger Felder. Im Prinzip verlaufe bei den Betroffenen die Verarbeitung der Wahrnehmung und des Denkens anders. Einige von ihnen sind sogar überdurchschnittlich begabt, sodass sie Texte beispielsweise nicht Zeile für Zeile lesen, sondern als Seite erfassen und auch abspeichern. Trotz solcher Fähigkeiten haben sie vor allem bei sozialen Interaktionen Schwierigkeiten. So können sie bei einem Gespräch Gesichtsausdrücke des anderen nur schwer oder zum Teil auch gar nicht deuten.
Die 1946 in Wien geborene Österreicherin, die mit dem Schweizer Kinderpsychiater Wilhelm Felder verheiratet ist, lebt seit 1985 in Zürich und hat sich in den letzten Jahren ganz und gar auf die Abklärung von Autisten spezialisiert. «Ich schätze diese besonderen Menschen, vor allem auch ihre Ehrlichkeit und ihre Verlässlichkeit», sagt sie bei unserem Treffen in ihrer Zürcher Praxis im dritten Stock eines schönen Altbaugebäudes unweit von Opernhaus und See.
Menschen mit Asperger-Syndrom sind im Alltag oft unter grossem Stress. Denn wenn sie jemandem gegenüberstehen, sind sie nicht in der Lage, dessen Blick, Gestik, Mimik und Tonfall richtig zu interpretieren und darauf zu reagieren. Sie können die Gefühle des anderen nicht nachempfinden und sich nicht in die andere Person hineinversetzen. «In allem, was sie denken und verstehen, gehen sie von sich aus, von eigenen Erfahrungen und Überlegungen», erklärt Asperger Felder. Das habe aber nichts mit Egoismus zu tun.
«Vieles, was andere Kinder in der Schule ohne viele Worte begreifen, muss einem autistischen Kind erst erklärt und vermittelt werden.»
Asperger-Autisten erkennen aus den vielen einzelnen Informationen, die sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung bekommen, häufig nicht so rasch einen Zusammenhang. Wenn sie etwa einen neuen Raum betreten, sehen sie die Details des Zimmers, die Decke, den Boden, die Möbel, die Fenster, aber nicht sofort alles auf einmal, also das gesamte Bild.
Autisten können oftmals das Handeln einer anderen Person intuitiv nicht richtig einschätzen. «Zum Beispiel, wenn diese plötzlich zum Taschentuch greift und nicht traurig aussieht, sondern einfach nur eine Erkältung hat», erklärt die Psychiaterin. Das mache es für Menschen mit Asperger-Syndrom schwierig, im Alltag zu funktionieren. Häufig reagieren sie deshalb auch nicht der Situation entsprechend, sodass sie eigenartig und unhöflich wirken. Die Anforderungen in der Gesellschaft sind vielfach so hoch, dass sie sozial überfordert sind. Das führt unter anderem zu Erschöpfung und zu depressiven Entwicklungen, aber auch zu Verweigerungen und Konflikten.
«Vieles, was andere Kinder etwa in der Schule ohne viele Worte sofort begreifen, muss einem autistischen Kind erst erklärt und vermittelt werden», sagt die Psychiaterin. Es versteht zum Beispiel nicht, wenn ein Lehrer sagt, die Schüler sollen das Blatt fertig machen, wenn insgesamt drei Zettel auf dem Pult liegen. Was bedeutet das denn genau? Hier ist die konkretere Aussage notwendig, dass eigentlich nur der Zettel direkt vor dem Schüler gemeint ist.
Autistische Personen müssen das Abc der zwischenmenschlichen Kommunikation regelrecht trainieren.
Von klein auf lernt man die Regeln des Zusammenlebens und der Kommunikation. Zum Beispiel, dass man mit dem Kopf nickt und «Hmm» brummt, um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass man immer noch zuhört und auch folgen kann. Das sind eingespielte Formen, die für die Verständigung wichtig sind und wie ein sozialer Kitt wirken. Man versteht sich und weiss genau, was der andere meint. Autistische Personen müssen das Abc der zwischenmenschlichen Kommunikation regelrecht trainieren, damit sie es zum richtigen Zeitpunkt anwenden können.
«Oft wird ihnen vorgeworfen, dass sie beim Gespräch so ernst schauen und nie lächeln», sagt Asperger Felder. Manche Erwachsene haben es deshalb vor dem Spiegel geübt, damit sie ja nicht auffallen. Ständig müssen sie sich dann daran erinnern, sich den Gepflogenheiten anzupassen. Autisten gibt es in allen Berufen, quer durch alle soziale Schichten. Es gibt sogar welche, die als Regisseur arbeiten. Doch das funktioniert nur, wenn sie ihre eigenen Vorstellungen auch umsetzen können. Dies sei nicht immer einfach und erschwere eine Kooperation mit anderen, sagt Asperger Felder.
Mobbing in der Schule
Wie ein Autist mit Asperger-Syndrom sich im Leben zurechtfindet, kann sehr unterschiedlich sein. Wenn jemand weniger stark betroffen ist, gleicht er seine Schwächen oft durch sein fachliches Know-how aus und hat in seinem Beruf Erfolg. Schwieriger ist es indes in der Schule. «Dort verkriechen sich betroffene Kinder oft in der Pause auf die Toilette, um ihre Ruhe zu haben und nicht gemobbt zu werden», sagt die Zürcher Psychiaterin.
Greta Thunberg sieht ihre Asperger-Diagnose jedoch nicht als Hindernis, sondern vielmehr als Chance. So sagte sie vor kurzem in einem Interview, dass sie ansonsten wohl einfach so weitergelebt hätte wie zuvor. Dabei sei es doch logisch: Entweder versuche man diese Krise wirklich mit allen Mitteln zu lösen – oder nicht. «Sie hat ihr Thema gefunden», sagt Asperger Felder. Jetzt lasse man sie machen und unterstütze sie.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
«Es ist keine Krankheit, sondern eher eine Besonderheit»
Autismus-Expertin Maria Asperger kennt die alltäglichen Schwierigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom. Dieses wurde nach ihrem Vater benannt.