Es regnet Elefanten
Alle lieben Franz Hohler und den Regenbogenfisch. Doch was hat die Schweizer Literatur für Kinder und Jugendliche sonst noch zu bieten? Hier ein kleiner Überblick.

Noch vor einem knappen Jahrzehnt konnte man sagen, die Schweizer Kinderliteratur zeichne sich durch eine philosophisch inspirierte Poesie aus; ihre Spezialität sei die kleine Form. Vielgerühmtes Beispiel dafür ist «Aller Anfang» (Beltz & Gelberg, 2006), eine Sammlung spekulativer, verrückter, fantastischer Geschichten vom Beginn der Welt, entstanden im Dialog zwischen Franz Hohler und Jürg Schubiger.
Tatsächlich prägten die beiden, zusammen mit Hanna Johansen, über Jahre die Schweizer Kinderliteratur. Auch wenn die drei ganz unterschiedliche Temperamente haben beziehungsweise hatten – Jürg Schubiger ist vor drei Jahren gestorben –, nehmen sie ihre jungen Leser ernst. Nicht als Wesen, deren leere Köpfe mit Wissen und Moralvorstellungen gefüllt werden müssen, sondern als Menschen mit eigener Gedanken- und Gefühlswelt. In dieser Perspektive ist Schreiben für Kinder wie Schreiben für Erwachsene, nur schwieriger. Dieselbe Substanz, dieselbe Tiefe, dieselbe Poesie ist gefordert, doch sie muss in einer einfachen Sprache daherkommen.
Schubigers Kurzprosa und seine verspielten Kindergedichte regen Kinder zum Philosophieren an, über Tiere und Menschen, Leben und Tod, und vor allem über die Sprache selbst, während Hanna Johansens letzte Kinderbücher – «Ich bin hier bloss die Katze» (Hanser, 2009) und «Wenn ich ein Vöglein wär» (DTV, 2013) – zunehmend ein erwachsenes Publikum ansprechen. Das liegt daran, dass die Katze Ilsebill und der Amselmann Mario die Menschenwelt aus der Perspektive tierischer Ethnologen sehen und dabei die Pfote, beziehungsweise den Schnabel, zielsicher auf die alltäglichen Absurditäten legen.

Franz Hohler könnte nach wie vor jeden Tag in einer Schulklasse auftreten, wenn er wollte: Er ist der Lieblingsautor vieler Lehrer – weil seine Geschichten pointensicher erzählt sind und doch, so ganz nebenbei, pädagogisch Wertvolles zu sagen haben. Und weil die Kinder seinen anarchischen Humor lieben.
Mit Sprache Freiräume schaffen
Unterdessen sind viele neue Stimmen dazugekommen, zumindest für kleinere Kinder; eine eigentliche Schweizer Jugendliteratur gibt es auch heute nicht. Oft kommen die Kinderbücher nach wie vor von Autoren, die hauptsächlich für Erwachsene schreiben. Lukas Hartmann und Brigitte Schär gehören zu den etablierten Stimmen auf diesem Feld, aber auch jüngere Autorinnen wie Dana Grigorcea erzählen für Kinder, mit Erfolg: In Zusammenarbeit mit der Illustratorin Anna Luchs schlägt Grigorcea im Bilderbuch «Mond aus!» (Baeschlin, 2016) einen herrlich lakonischen Ton an. Mit hintergründigem Witz erzählt sie von einem kleinen Wolf, der nicht einschlafen kann: Der Mond scheint zu hell.
Um gute Bilderbuchtexte zu schreiben, muss man bereit sein, den Text aufs absolut Notwendige zu reduzieren; schliesslich lebt das Medium Bilderbuch von der Spannung zwischen Text und Bild. Alles, was die Bilder zeigen, braucht der Text nicht; die Kunst des Schreibens besteht hier vor allem darin, Freiräume zu schaffen – für die Illustrationen und für die Fantasie der Kinder.
Das weiss auch Viola Rohner, die zusammen mit Bruno Blume und Lorenz Pauli die schönsten Bilderbuchtexte schreibt. Die Zürcherin greift auf ihre Erfahrung als Theaterautorin zurück, wenn es darum geht, lebendige Szenen zu entwerfen, auch für Erstlesebücher. Gerade ist «Immer wieder Minna» erschienen, der zweite Band einer Reihe, in der die kleine Minna Geschichten aus ihrem Schulalltag erzählt. Der Text ist für Leseanfänger leicht verständlich, nimmt die Kinder aber mit auf eine sprachliche Abenteuerreise. Wenn Minna mit ihrer Klasse in den Stadtpark geht, gibt es dort nicht nur allerlei Nutztiere, sondern vor allem Wörter zu entdecken, die man zusammensetzen kann: Hochlandrinder, Shorthorns und Gruselgruselmonster.
Mobbing und Gewalt als Thema
Ohne herausragende neue Namen ist die Deutschschweizer Kinderbuchszene in den letzten Jahren lebendiger und vielfältiger geworden. Das Spektrum reicht von experimentierfreudigen Bilderbüchern bis zur Genreliteratur; die Bücher erscheinen sowohl in kleinen, feinen Schweizer Verlagen als auch in deutschen Konzernen. Krimis gehören schon länger dazu: Petra Ivanov und Alice Gabathuler nehmen aktuelle Themen wie Ausgrenzung, Mobbing und Gewalt unter Jugendlichen auf.

Doch dass es Serien über Mädchenbanden aus der Schweiz gibt, in der Tradition von Enid Blytons legendären Fünf Freunden oder Cornelia Funkes Wilden Hühnern, ist ein neues Phänomen. Katja Alves (die eine Reihe von heiter-melancholischen Kinderromanen geschrieben hat) ist die produktivste und erfolgreichste Autorin auf dem Gebiet des sogenannten Lesefutters, das Mädchen ab sieben, acht Jahren serienweise verschlingen. Ende Juli erschien der neunte Band der Muffin-Club-Serie (Arena), in der vier beste Freundinnen, alle mit einem süssen Zahn, gemeinsam Abenteuer bestehen. Und dieses Jahr startete «Die supergeheime Pfötchen-Gäng» (Arena), eine neue Serie für etwas jüngere Leser, in der eine Bande aus fünf tierischen Freunden ermittelt, seit Meerschweinchen Bertie herausgefunden hat, wie man Türen öffnet.
Eine Internatsgeschichte der schrägeren Art erzählt der Krimiautor Sunil Mann in seinem Kinderbucherstling «Immer dieser Gabriel» (Orell Füssli Kinderbuch, 2016). Gabriel ist nämlich der jüngste Engel im Internat Wolkenschloss und alles andere als brav. Im zweiten Band, der diesen Herbst erscheint, gerät er in eine besonders brenzlige Situation: Er soll einer kleinen Teufelin himmlischen Anstand beibringen.
Weder Alves noch Mann haben den Anspruch, besonders schweizerisch zu sein. Vor allem Alves geht es um eine kindliche Perspektive auf ein globalisiertes Europa mit flexiblen, mobilen, sprich: permanent umziehenden und sich neu erfindenden Eltern. Das ist erfrischend. Umso mehr, als ihre Figuren frech, sensibel und einfallsreich sind.
Auf die Schweiz beschränkt sich die Schweizer Kinderliteratur thematisch natürlich nicht. Das gilt sogar für Globi, der in seiner fast schon kultigen Biederkeit immer noch da ist, mit seinem eigenen Verlag; er rettet jetzt als Öko-Aktivist die ganze Welt – das Matterhorn besteigt er eher nebenbei.
Internationale Standards setzen die Schweizer im Bereich Bilderbuch. Und zwar nicht nur mit Marcus Pfisters Regenbogenfisch, dem Longseller aus dem NordSüd-Verlag, sondern mit künstlerisch innovativen Werken. So schnucklig sind die Füchse und Schweine, ja sogar die Vögel und Frösche des erfolgreichen Duos Lorenz Pauli und Kathrin Schärer, dass sie uns regelrecht anspringen – und schon stecken wir mitten in einem klugen Gedankenspiel rund um Medien und Erzählen. In «Fell und Feder» (Atlantis, 2017), das demnächst erscheint, schicken sie einen Hund und ein Huhn auf die Theaterbühne: Der Hund sucht einen starken Freund, das Huhn einen Piratenschatz. Dabei machen sie die Erfahrung, dass die Juwelen viel schöner funkeln, wenn man von ihnen erzählt, als wenn man sie in der Kralle hält.
Der Schwanz des Löwen
Hinter solchen Erfolgsgeschichten stehen engagierte Verlage, beziehungsweise Programmleiter mit Spürnasen. Bei Atlantis ist es Hans ten Doornkaat, bei NordSüd Herwig Bitsche. Beide entdecken auch immer wieder junge Talente. Zum Beispiel Francesca Sanna, eine junge Sardin, die in Zürich lebt. Ihr Bilderbuch «Die Flucht» (NordSüd) hat es sogar auf die Nominationsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises geschafft; übersetzt hat das Buch der langjährige TA-Redaktor Thomas Bodmer. Sanna schildert die Flucht einer Familie über das Mittelmeer aus kindlicher Sicht, indem sie eine stilisierte Aussenwelt mit Emotionen auflädt, die als Farben und Formen gestaltet werden – Angst und Hoffnung, Heimweh und Abenteuerlust, Ohnmacht und kleine Gestaltungsräume, die sich unversehens auftun.
Auch im Atlantis-Verlag gibt es dieses Jahr ein aufregendes Bilderbuchdebüt: «Marta & ich» des Illustratorinnenduos, das unter dem Namen It's Raining Elephants firmiert. Dahinter verbergen sich die Luzerner Künstlerinnen Evelyne Laube und Nina Wehrle. Das Buch beginnt mit einer leeren Doppelseite. Alles ist weiss; zu sehen sind nur ein kleines Mädchen mit feuerrotem Haarschopf, Papier und Stifte. Die Welt muss erst noch gemalt werden.
Leben in die Bude kommt, als Marta, das Mädchen, einen Löwen malt, der sogleich lebendig wird und sagt: «Bonjour Madame, gestatten Sie?» Und nicht nur das: Er ist auch der Erzähler von Martas Geschichte. So eine Löwenschwanzquaste, das begreift Marta sofort, ist ein wunderbarer Pinsel, und so sind den künstlerischen Abenteuern der beiden keine Grenzen gesetzt.
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