Es regnet im Bauch des Gletschers
Im Jökulsárlón, einer Lagune an der Südküste Islands, treiben pittoreske Eisberge umher.

Weit draussen auf der Eislagune drosselt Ingemar den Motor des Amphibienboots. Unser Guide packt einen kleinen Eisberg und hievt ihn aus dem glasklaren Wasser des Jökulsárlón an Deck. Möwen kreischen, während er den triefenden Brocken mit einem Beil in Stücke hackt und sie an die Feriengäste an Bord verteilt. «Tausend Jahre alt!», sagt er nur.
Andächtig lecken wir an dem Eis, das in der Sonne glitzert. Es ist so kalt, dass die Zunge beinahe daran festfriert. Der Vatnajökull hat dieses Eis geboren: der gewaltigste Gletscher Europas. Er ist grösser als der Kanton Graubünden. Bis zu 950 Meter ist seine Eisdecke dick, und er hat 50 Ausläufer.
Einst war ganz Island von solchen Giganten bedeckt. Ihre Eismassen haben die Landschaften der Insel geprägt. Durch Druck und Erosion schufen sie über Jahrmillionen schroffe Felsformationen, Täler, Fjorde und Geröllwüsten. Gebannt von Schnee, Kälte und Eis, so die Legende, prägte der norwegische Siedler Flóki Vilgerarson im 9. Jahrhundert den Namen «Island» für die Insel – Eisland. 10 Prozent der Landesfläche liegen bis heute unter ewigem Eis. Doch inzwischen macht die Klimaerwärmung den Gletschern zu schaffen: «Sie schwitzen», sagt Ingemar, unser Guide mit der bunten Schirmmütze und den breiten Schultern. Die weissen Giganten werden instabil oder schmelzen dahin. Ewig war gestern.
Scherben früherer Eisberge glitzern wie Juwelen
An manchen Orten sieht die Agonie der Gletscher wunderschön aus: so wie an der Lagune Jökulsárlón, wo noch vor 80 Jahren Hunderte Meter dickes Eis lag. Dann begann der Gletscher zu schrumpfen, und er legte das Erdreich unter sich frei. Eine tiefe Mulde blieb zurück, die sich immer stärker mit Schmelzwasser füllt. Mitunter stürzen ganze Eiswände krachend in die Lagune hinab. Anfang April konnten Gletscherfans am Ufer gerade noch rechtzeitig vor einer so ausgelösten Flutwelle fliehen.
Beeindruckt tuckern wir in Ingemars Amphibienboot zwischen Eisbergen umher, die surreal wirken, wie von Salvador Dalí gemalt. Manche sind blass wie Knochen, andere glänzen türkisfarben oder blau. Wieder andere sind grau-weiss gestreift. Bis zu zehn Meter ragen sie aus dem Wasser. Einige verjüngen sich gegen den Himmel, andere sehen wie Fabelwesen aus. «Kinder des Vatnajökull», sagt Ingemar und lenkt das Boot um einen besonders grossen Eisberg herum. 90 Prozent des Volumens dieser Brocken liegen unter der Wasseroberfläche.
In der Gletscherlagune tummeln sich Forellen, Heringe und Lachse. Küstenseeschwalben und Raubmöwen nisten in der Nähe. Eine Robbe schaut unternehmungslustig hinter einem Eisberg hervor. Dutzende dieser Meeressäuger finden im Jökulsárlón ihre Beute. Und das mit dem «tausendjährigen Eis» hat sich unser Guide nicht nur ausgedacht: Wissenschaftliche Studien belegen, dass Eis tatsächlich so lange braucht, um sich hoch oben auf dem Vatnajökull zu bilden und ins Tal hinabzuwandern. Über Wochen werden die Eisberge in der Gletscherlagune dann immer kleiner, bis sie bei Ebbe durch einen schmalen Fluss aufs Meer hinaustreiben, wo schwere Wellen über sie hinwegdonnern. Was dann noch von ihnen übrig ist, wird an den Strand gespült.

Nach der Bootstour laufen wir zur Küste hinunter – und sind überwältigt: Auf dem schwarzen Sandstrand funkeln die Scherben ehemaliger Eisberge wie Juwelen in der Sonne. Kein Wunder, dass dieser Ort «Diamantstrand» genannt wird. Doch die Kunstwerke aus tausend Jahre altem Eis zerfliessen vor unseren Augen.
Bereits seit den 1930er-Jahren überwachen isländische Glaziologen, ob sich das ewige Eis verändert. Bauern, Ärzte, Pfarrer, Krankenschwestern und andere Laien unterstützen sie ehrenamtlich dabei. Regelmässig pilgern sie in die Berge und überprüfen die Position der Gletscherzungen. Aufschlussreicher ist die Massenbilanz. Um diese zu errechnen, dringen Experten im Frühling mit Spezialgeräten viele Meter tief durch den im Winter gefallenen Schnee vor. Sie bohren mit Aluminiumstangen in den darunterliegenden Firn – eine Vorstufe von Eis, die entsteht, wenn Schneekristalle durch mehrfaches Auftauen und Gefrieren zu graupelartigen Gebilden verschmelzen. Ende September dann kommen die Glaziologen wieder und sehen nach, ob die Stangen aus dem Firn ragen und der Gletscher über das gesamte Jahr hinweg geschrumpft ist. Noch vor nicht allzu langer Zeit wuchsen die Gletscher mitunter. Seit 1995 aber sind ihre Bilanzen nur noch negativ.
Eines Tages werde ich Feriengästen erzählen, wie es war, als es auf Island noch Gletscher gab.
Snorri Svensson ist einer der Leute, die täglich mit der Klimaveränderung zu kämpfen haben. In der Siedlung Svinafell, an der Ringstrasse, wartet der rothaarige Bergführer mit von der Sonne gegerbter Haut vor einem Bauwagen mit Seilen, Karabinern und Steigeisen auf seine nächste Bergsteigergruppe. Hier, unweit der Südküste, beginnen Touren zum Gipfel des Hvannadalshnúkurs, der als Ausläufer zum Vatnajökull gehört und mit 2110 Metern der höchste Berg Islands ist.
Seit neun Jahren leitet der bärtige 30-Jährige im grau-weiss gemusterten Islandpullover Abenteuerwanderungen durch das ewige Eis. Doch was heisst schon ewig? «Wer in der Stadt wohnt, glaubt das mit der Klimaerwärmung ja oft nicht so recht», sagt Snorri. «Aber hier wird sie leider sehr deutlich.» Alle paar Tage muss er die Routen ändern, damit die Teilnehmer nicht zu tief im tauenden Schnee und Eis einsinken. «Eines Tages», sagt er nachdenklich, «werde ich Feriengästen erzählen, wie es war, als es auf Island noch Gletscher gab.»
Riesige gefrorene Tropfen hängen von der Decke
Auf unsere Reisegruppe wartet an diesem Tag ein weiterer Höhepunkt: Statt auf den Gipfel eines Gletschers zieht es uns tief in seinen Bauch. Lange fährt der Bus an lilabläulich schillernden Lupinienfeldern vorbei. Später geht es eine graubeige Mondlandschaft hinauf. Der zweitgrösste Gletscher Islands, der Langjökull, liegt vor uns. Wie eine gigantische weissgraue Mütze wölbt er sich über den Berg.
Der legendäre Eisstollen, den wir wenig später betreten, wurde mit Spezialbohrern 500 Meter tief in den Gletscher gefräst. Am Eingang stülpen wir Schneeketten über unsere Schuhsohlen. Spärliches Licht erhellt die Höhle. Hinter der äusseren Eisschicht sind LED-Lampen angebracht. Schnee und Eis knirschen unter den Füssen. Im Schein seiner Taschenlampe macht uns Ingemar, unser Guide, auf bläulich schimmernde Linien in der Stollenwand aufmerksam. Sie deuten auf Wasseradern hin, die unter hohem Druck gefroren sind.
Glaziologen berieten die Ingenieure beim Graben des Stollens. Sie wählten eine Stelle oben am Gletscher. Denn hier wälzen sich die Eismassen langsamer Richtung Tal als unten, und es besteht keine Einsturzgefahr.
Schmelzwasser tropft von der Decke
An einer Stelle führt die künstliche Höhle mitten durch eine Gletscherspalte. Wie eine Kathedrale gibt sie den Blick weit nach oben frei. Über uns leuchten bizarr geformte Eiskristalle und riesige gefrorene Tropfen, die von der Decke herabhängen. Dieser zauberhafte Ort war ein Zufallsfund beim Graben der Eishöhle, weiss Ingemar.
Die «Alte Kapelle», eine grottenartige Ausweitung des Stollens, beeindruckt. Ursprünglich sollte sie als Bar eingerichtet werden. Aber die Akustik ist zu gut. Selbst Geflüster hören alle bis in den hintersten Winkel. Nicht ideal für Urlaubsflirts. Dafür singen manche Guides hier isländische Volkslieder für die Feriengäste. Und die Grotte wird als Kapelle genutzt. Paare geben sich hier das Jawort: tief im Langjökull. Nicht zuletzt wohl, auf dass die Kälte im Stollen ihre Liebe für immer konserviere.
Doch die Klimaerwärmung ist unerbittlich. «Lasst euch Zeit beim Fotografieren», sagt Ingemar ernst. «Nichts wird hier so bleiben.» Eigentlich sollte es im Stollen konstant null Grad kalt sein, selbst wenn draussen die Sonne vom Himmel brennt. Sollte. Zum Glück haben einige von uns Schirme dabei. Schmelzwasser tropft von der Decke – wie Nieselregen, tief im Bauch des Gletschers. Bewahrheiten sich die Hochrechnungen, wird der Langjökull bis Ende des Jahrhunderts auf 10 Prozent seiner heutigen Ausdehnung zusammenschmelzen. Und bald darauf verschwinden. Samt Eistunnel.
Diese Reise wurde unterstützt von Reiseveranstalter Gebeco.
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