ETH-Forscher warnt vor Kollaps globaler Netzwerke
Die Menschen sind von immer komplexeren Netzwerken abhängig. Ausfälle können in einem Dominoeffekt zu Katastrophen anschwellen, warnt ein Wissenschaftler der ETH.
Finanzkrisen, Konflikte oder Stromausfälle können geschehen, weil wir von komplexen, aber zugleich bedenklich instabilen globalen Netzwerken abhängig sind. Diese müssen neu organisiert werden, sonst drohen weitere Krisen von globalem Ausmass, warnt der ETH-Forscher Dirk Helbing.
Als Beispiel nennt Helbing die rasche Ausbreitung von Epidemien in der heutigen Zeit. Diese seien eine direkte Folge des global vernetzten Flugverkehrs, schreibt der Soziologe in einem am Mittwoch veröffentlichten Essay im Fachjournal «Nature».
Auch Unglücke in Menschenmassen – eines von Helbings Forschungsfeldern – illustrieren, wie komplexe Systeme ausser Kontrolle geraten können: Obwohl niemand den anderen etwas tun will, trampeln Menschen einander zu Tode.
Den Grund wähnt Helbing darin, dass sich komplexe Netzwerke oft nicht so verhalten, wie man es erwarten würde. Einzelne Ausfälle können sich wie zufällig verbreiten und in einer Art Dominoeffekt zu Katastrophen mit «praktisch unermesslichen Schäden» anschwellen, sagt er in einer Mitteilung der ETH Zürich.
Finanzarchitektur falsch aufgebaut
Diese Ereigniskaskaden seien schwer zu verstehen, vorherzusagen und fast unmöglich zu stoppen, wenn sie einmal im Rollen sind. Das Unverständnis führt laut Helbing dazu, dass diese Netzwerke oft falsch entworfen und organisiert werden. «Nötige Sicherheitsvorkehrungen werden nicht getroffen», schreibt er.
Als Beispiel nennt er die Bankenkrise von 2008: Schon 2003 hatte der Investor Warren Buffett davor gewarnt, dass Finanzderivate eine «Zeitbombe» und «Massenvernichtungswaffen» seien. Fünf Jahre später explodierte die «Bombe» und vernichtete Milliarden an Aktienwerten.
«Die Finanzarchitektur ist falsch aufgebaut», ist Helbings Schluss. Es gebe keine «Vorbruchstellen», die – wie Sicherungen im elektrischen System – eine Ausbreitung von Problemen verhindern. Es habe auch kein Auffang- oder Backup-System gegeben, da das vorherrschende Paradigma keine Blasen und Zusammenbrüche vorgesehen hatte.
Selbstkontrollierte Ampeln
Solche schlecht organisierten Systeme würden früher oder später aus dem Ruder laufen, ist Helbing überzeugt. «Sie müssen dringend reorganisiert werden.» Zum Beispiel indem man die Selbstorganisation der Systeme, die im Alleingang zur Katastrophe führt, gezielt in die richtigen Bahnen leitet.
Dass dies funktioniert, konnten Helbing und sein Kollege Stefan Lämmer mit selbstkontrollierten Ampeln zeigen. Diese messen selbst den Verkehrsfluss und koordinieren so benachbarte Kreuzungen, anstatt dass sie zentral gesteuert werden. Die Reisezeit verkürzt sich mit solchen schlauen Ampeln deutlich, wie die Forscher schon 2008 mit Modellrechnungen nachgewiesen hatten.
Besonderes verletzlich ist das globale Informationstechnologienetzwerk: Seine heute 30-jährige Grundstruktur mache es anfällig für alle Arten von «Cyber-Kriminalität», schreibt Helbing. Er schlägt auch für dieses «grösste menschliche Artefakt aller Zeiten» eine völlig neue Architektur auf Basis der Selbstorganisation vor.
Soziale Grosswetterlage
Lösungen muss nach Helbings Ansicht die Forschung liefern. Er fordert eine massive interdisziplinäre Forschungsanstrengung, um diese «unartigen» Systeme besser zu verstehen. Ein Beispiel dafür ist die Futur-ICT-Initiative der ETH Zürich, die eine riesige Analyseplattform errichten will, um die Welt besser zu verstehen.
Ähnlich wie bei Wettervorhersagen könne damit die «soziale Grosswetterlage» überprüft werden und für alle einsehbar sein. Politiker, Firmen und Bürger könnten «Was wäre, wenn»-Szenarios analysieren oder die möglichen Auswirkungen von Strategien testen, erklärt Helbing.
«Es wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts sein, praktische Lösungen zu suchen und die positiven Seiten der Kaskadeneffekte zu nutzen», schreibt Helbing.
SDA/kle
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