
Lange war es ruhig gewesen. Nun machen die beiden spanischen Enklaven in Nordafrika, die Hafenstädte Ceuta und Melilla, wieder Schlagzeilen. Weit mehr als tausend junge Afrikaner haben den Dreifachzaun überwunden, der die beiden Städte von Marokko trennt, Dutzende zogen sich dabei Schnittverletzungen zu. Eine innenpolitische Debatte haben die jüngsten Entwicklungen allerdings nicht ausgelöst. Abgesehen von der linksalternativen Gruppierung Podemos halten es alle anderen grossen Parteien für unausweichlich, dass die beiden Städte durch einen mit Nato-Draht bewehrten Zaun abgeschirmt bleiben. Die konservative Regierung in Madrid verweist darauf, dass sie gegenüber der Europäischen Union in der Pflicht steht, deren Aussengrenzen zu sichern.
Die Grenzanlagen wurden in den vergangenen Jahren weiter ausgebaut, sie sind nun lückenlos mit Meldesystemen ausgestattet. Auch haben sich die Regierungen in Madrid und Rabat darauf geeinigt, dass marokkanische Grenzschützer bereits das Hinterland durchkämmen, um möglichst wenige Personen bis an die Grenze vordringen zu lassen. Amnesty International rügt dabei regelmässig brutale Übergriffe marokkanischer Sicherheitskräfte. Jedenfalls gelang im vergangenen Jahr nur 1185 Personen der grosse «Sprung über den Zaun».
Marokko droht
Dass diese Zahl nun innerhalb weniger Tage übertroffen wurde, ist ganz offensichtlich auf einen Konflikt zwischen Marokko und der EU zurückzuführen. Anlass ist ein Streit über ein neues Handelsabkommen, Konfliktpunkt ist die Einbeziehung der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara, die Rabat annektiert hat. Vertreter der marokkanischen Regierung hatten in den vergangenen Tagen damit gedroht, dass es zu einem neuen «Flüchtlingsstrom» kommen könnte, falls man sich nicht einige.
Beide Städte, die jeweils rund 85'000 Einwohner zählen, gehören seit einem halben Jahrtausend zu Spanien, einheimische Muslime bekleiden wichtige Posten in Politik und Medien. Nur ein Bruchteil der Einwohner spricht sich für einen Anschluss an Marokko aus; dieses wiederum profitiert beim Handel mit der EU nicht unerheblich von den Freihäfen in beiden Städten.
Unter Migrationsexperten in Spanien herrscht die Auffassung vor, dass es sich bei der überwältigenden Mehrheit der «Subsaharianos», wie die Migranten aus den Ländern südlich der Sahara genannt werden, nicht um politische Flüchtlinge handelt. In der Tat stellt nur ein ganz kleiner Teil von ihnen einen Asylantrag wegen politischer Verfolgung. Die meisten sind zwischen 16 und 21 Jahren alt, sie kommen aus Mittelstandsfamilien. Sie erliegen der grossen Illusion, dass Europa ihnen grandiose Lebenschancen bietet. Auch haben Befragungen ergeben, dass der «Sprung über den Zaun» als Mutprobe gilt. Die spanischen Behörden haben an den Zäunen Schilder in mehreren Sprachen angebracht, die vor der Verletzungsgefahr durch die scharfen Klingen des Nato-Drahts warnen, auch werden Zettel mit entsprechenden Hinweisen an den Sammelpunkten der Afrikaner verteilt.
Ein Leben ganz unten
Untersuchungen zeigen, dass die meisten, die den Zaun überwinden können, nach Frankreich oder Deutschland weiterreisen wollen; die spanischen Behörden hindern sie nicht daran. Doch werden die jungen Männer, die zunächst den gelungenen «Sprung» bejubeln, sehr schnell vom Paradies Europa enttäuscht. Zwar müssen sie in Spanien nicht in ständiger Angst vor Abschiebungen leben, auch wenn sie illegal eingereist sind; solche finden nur selten statt. Doch sie werden stattdessen sich selbst überlassen. Die meisten leben ausserhalb des spanischen Sozial- und Steuersystems, kleine Parallelgesellschaften sind entstanden. Immerhin nehmen die öffentlichen Schulen die schulpflichtigen Kinder auf, auch wenn der rechtliche Status der Eltern unklar ist.
In diesen Parallelgesellschaften herrscht ein gnadenloses Wirtschaftssystem, das auf Erpressung und Ausbeutung beruht, wobei Täter und Opfer meist Landsleute aus Afrika sind. So finden viele der Neuankömmlinge nur Arbeit als fliegende Händler auf den Touristenmeilen und Stränden, dabei müssen sie ihre Waren meist im Voraus bezahlen, und die Verdienstspannen sind minim. Auch befinden sich die Unterkünfte meist in der Hand einer kleinen Gruppe von Besitzern. Es gibt nur einen Ausweg, sich aus dieser Spirale der Abhängigkeit herauszuarbeiten: Nachkömmlinge aus der Heimat anzuwerben, die dann ganz unten anfangen müssen.
Soziologen sprechen vom «Pepe-Syndrom». Der Begriff spielt auf den 1971 in die Kinos gekommenen Kultfilm «Komm nach Deutschland, Pepe!» (Vente a Alemania, Pepe) an. Dieser handelt von spanischen Gastarbeitern in München. Sie müssen hart arbeiten, verdienen schlecht, werden oft gedemütigt. Doch ihren Verwandten und Freunden machen sie weis, dass sie in Deutschland fast wie im Paradies lebten. Nach Erkenntnissen der spanischen Caritas, die viele der jungen Einanderer umsorgt, schildern diese über Facebook, welch ein tolles Leben sie in Europa führten. Keinesfalls würden sie zugeben, dass sie in eine Sackgasse geraten sind.
Mitarbeiter der Caritas geben sich überzeugt, dass die allermeisten sich viele Frustrationen ersparen und viel glücklicher leben würden, wenn sie in der Heimat blieben. In Spanien wird längst darüber debattiert, ob nicht EU-Experten auf marokkanischem Boden eine erste Sichtung der jungen Afrikaner vornehmen und nur diejenigen, die eine Chance auf Anerkennung als politische Flüchtlinge haben, auf das Festland holen sollten. Die Aufnahme politisch Verfolgter stellen die meisten Spanier nicht in Frage. Auch Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak können sich bei den spanischen Grenzposten in Ceuta und Melilla melden. Sie werden nicht abgewiesen.
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Europa als Illusion und Mutprobe
Warum Hunderte Migranten den Zaun um die spanischen Enklaven in Afrika überwinden.