
Der EU geht es nicht gut. Die Folgen der Finanzkrise sind immer noch spürbar, die Währungsunion bleibt fragil und die Migrationsfrage ungelöst. Populisten wettern gegen Brüssel, während sie gleichzeitig von der EU profitieren. In Ost- und Südosteuropa verliert der europäische Wertekanon an Wirkung, und die Brexit-Wunde schwärt noch immer. Und nun wird gewählt! Kommende Woche bestimmen 450 Millionen Europäer ihr Parlament.
In den 28 EU-Mitgliedsstaaten kandidieren Politikerinnen und Politiker zahlreicher Parteien, links, Mitte, rechts. Massgebend ist jedoch nur eine Frage: für Europa oder gegen Europa? Derzeit sieht es danach aus, als ob die Proeuropäer ihre Mehrheit verteidigen könnten, die EU-Gegner dürften aber zulegen. Deshalb besteht die Gefahr, dass sich Europa bei dieser Wahl weiter selber schwächt.
Dabei benötigt die EU dringend einen Vitaminstoss. Die grösste Herausforderung ist das neue China von Xi Jinping. Erstmals ist es einem kommunistischen Regime gelungen, den Wohlstand massiv zu steigern. Dabei ist Peking nicht nur ein wirtschaftlicher Konkurrent, sondern zunehmend ein gesellschaftlicher: Das China des 21. Jahrhunderts ist eine erfolgreiche Diktatur, deren Machterhalt auf totaler digitaler Überwachung basiert und die sich nun als Alternative zu den westlichen Demokratien empfiehlt. Wirtschaftliche Versprechen, mit denen China einzelne EU-Staaten – und auch die Schweiz, wie wir gesehen haben – ködert, kann Europa nur kontern, wenn es geschlossen auftritt.
Auf der Weltbühne ist die Schweiz auf einen Partner mit ähnlichen Werten angewiesen. Das kann nur Europa sein.
Was Russland betrifft, geht es um die Sicherheit. Solange es Wladimir Putin gelingt, die Europäer auseinanderzudividieren, kann er den russischen Einfluss nach Westen ausweiten. Und schliesslich hat die Police der transatlantischen Rückversicherung an Wert verloren. Selbst wenn Donald Trump nicht wiedergewählt wird, lässt sich das Rad nicht zurückdrehen.
Mehr denn je auf sich selbst gestellt, muss Europa zu innerer Stärke finden. Wenn deshalb nun aber Europa-Turbos mehr Integration fordern, erreichen sie das Gegenteil: Sie forcieren damit die Spaltung der EU. Das ist nicht etwa die Folge des nationalistischen Populismus, sondern die Konsequenz des Demokratiedefizits in der EU. Seit dem Maastrichter Vertrag (1993) hat sich die Exekutivgewalt in Brüssel verselbstständigt. Diese Entwicklung, verkörpert von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – gut, dass seine Amtszeit abläuft –, hat Anti-EU-Kräften wie Matteo Salvini, Viktor Orban oder Jaroslaw Kaczynski Auftrieb gegeben. Sie verhöhnen die EU und ignorieren ihre Verdienste um Frieden und Wohlstand.
Fahrlässig wäre deshalb, der EU weitere umfassende Kompetenzen zu übertragen. Wer das fordere, jage «einer ahistorischen Utopie» nach, schreibt der renommierte deutsche Historiker Heinrich August Winkler. Damit würde wider Willen der Nationalismus gefördert. Er schlägt vor, dass die nationalen Parlamente mehr europapolitische Verantwortung übernehmen, europäische Themen debattieren und nach vereinbarten Fristen darüber befinden: «Wenn europäische Fragen intensiv behandelt und als Kernthemen der nationalen Politik begriffen werden, nimmt die Akzeptanz der EU zu.»
Populistische Kräfte hierzulande hoffen, dank der Schwäche der EU ein besseres Rahmenabkommen mit Brüssel herauszuholen.
Der liberale europäische Nationalstaat ist bis heute der sicherste Hort für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte, illiberale Demokratien wie Ungarn oder zum Teil Polen sind Ausnahmen. Die allermeisten EU-Bürger sehen sich als Europäer, identifizieren sich aber mit ihrer historisch gewachsenen Nation, und das nicht nur bei Fussballländerspielen.
Was heisst das für die Schweiz? Populistische Kräfte hierzulande hoffen, dank der Schwäche der EU ein besseres Rahmenabkommen mit Brüssel herauszuholen. Sie dürften sich täuschen: Derart unter Druck wird die EU kaum konzilianter, auch in Sachen Brexit zeigten sich die Mitgliedsstaaten selten einmütig. Ausserdem bleibt es dabei: Die Schweiz ist weit mehr auf einen Markt mit 500 Millionen Menschen angewiesen als die EU auf einen mit 8,5 Millionen.
Nach der Europawahl werden die EU-Kommission und ihr Präsident neu bestimmt.
Der Schweiz sollte aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen an einer starken EU gelegen sein. Ungeachtet der Begeisterung von Bundespräsident Ueli Maurer für Chinas neue Seidenstrasse, steht es der Schweiz gut an, wenn sie sich in Peking oder Moskau für Menschenrechte einsetzt. Von Diktatoren und Autokraten wird sie eher ernst genommen mit einem starken Europa im Rücken, das für dieselben Werte eintritt.
Nach der Europawahl werden die EU-Kommission und ihr Präsident neu bestimmt. Wenn die künftige Exekutive auf vermeintlich europafreundliche Utopien verzichtet, wenn sie die Nationalstaaten nicht als Anachronismus betrachtet und wenn sie bescheiden und realistisch agiert, dann bietet sich der EU eine neue Chance. Und damit auch der Schweiz. Denn auf der Weltbühne ist sie auf einen verlässlichen Partner mit ähnlichen Wertvorstellungen angewiesen. Das kann nur Europa sein.
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Europa braucht eine starke EU
Brüssel kann Putin, Xi und Trump nur Paroli bieten, wenn die EU-Mitglieder ihre europäische Verantwortung wahrnehmen.