«Europa könnte viel von der Türkei lernen»
Erdogan hat sein wahres Gesicht nie verborgen, sagt die türkische Schriftstellerin Ece Temelkuran.

Frau Temelkuran, die Türkei ist seit dem Referendum im April wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Wie ist das zu erklären?
Die Türkei steht an einem wichtigen Wendepunkt ihrer Geschichte. Selbst für Türkinnen und Türken im Land ist es schwierig zu verstehen, was zurzeit tatsächlich vor sich geht. Daher hört man zurzeit aus der Türkei sehr wenig.
Ihr Schriftstellerkollege Orhan Pamuk hat jüngst appelliert, die türkischen Demokraten nicht im Stich zu lassen. Wie stark ist die Gefahr für sie?
Das Umfeld für Demokraten ist nicht freundlich. Die Türkei ist das Land mit der höchsten Zahl an inhaftierten Journalisten weltweit. Ich glaube aber, dass die Europäer sich auch im eigenen Interesse für die Türkei interessieren sollten, weil in einigen Ländern Europas ähnliche Entwicklungen im Gang sind.
Sie sprechen den Populismus an?
Genau. Der Populismus ist ja nur deshalb stark geworden, weil die demokratischen Institutionen in Europa und den USA geschwächt sind. Der Populismus geht stets nach denselben Mustern vor. Es wäre daher ein Fehler zu glauben, dass die Entwicklung in der Türkei nichts mit Europa zu tun hat. Es war ein langer, gradueller Prozess bis zu den heutigen Verhältnissen in der Türkei. Europa könnte viel davon lernen.
In Ihrem Türkei-Essayband kamen Sie vor zwei Jahren noch zu einem optimistischen Fazit: Das Land stehe vor der «kurdischen Dekade». Von Politikern wie Selahattin Demirtas werde man noch viel hören.
Es ist nicht das erste Mal, dass Hoffnungen auf eine positive Entwicklung in der Türkei wieder zerstört wurden. Demirtas versteht sich nicht nur als kurdischer Politiker. Er sitzt seit letztem November im Gefängnis, weil er der einzige Führer der Opposition ist, der die Widerstandsenergie der Gezi-Proteste aus dem Jahr 2013 hätte weiterführen können. Die Opposition in der Türkei ist arg dezimiert und zersplittert. Auch war es eine bittere Erfahrung, dass die Führer der sozialdemokratischen CHP-Partei die Manipulationen der Regierung am Ergebnis des Referendums passiv hinnahmen.
In Ihrer Kolumne in der «WochenZeitung» hielten Sie aber fest, dass die Opposition seit dem Referendum wisse, dass sie in der Mehrheit sei.
Das stimmt. Das Regime hatte die Opposition als Minderheit bezeichnet. Dies ist trotz der Manipulationen durch das Referendum widerlegt worden. Das gab einen Schub. Aber es gibt niemanden, der die Opposition anführen könnte.
Pamuk hofft auf die neue Mittelklasse, die eine Ein-Mann-Herrschaft nicht akzeptieren werde. Sie haben da eine andere Einschätzung.
Ich sehe die Rolle dieser Mittelklasse komplett anders. Die neue AKP-Bourgeoisie verdankt ihre Existenz der Partei. Sie weiss sehr genau, dass ein Sturz der AKP auch das Ende ihres politischen und finanziellen Wohlergehens sein wird. Daher wird sie die Ein-Mann-Herrschaft bis zum bitteren Ende stützen.
Im Westen galt die Türkei lange als demokratisches Vorzeigemodell für andere muslimische Länder. Erdogan hat einst auch eine Aussöhnung mit den Kurden angestrebt. Sie haben nie daran geglaubt?
Ich bin bei weitem nicht die Einzige, die dem Aussöhnungsprozess nicht getraut hatte. Die Fehleinschätzung der Türkei als Land mit einer islamischen Demokratie entstand in den Jahren nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Damals hat man im Westen verzweifelt nach einem demokratischen, moderat-islamischen Führer gesucht. Das Modell Türkei sollte andere Länder im Nahen Osten davor bewahren, dem Extremismus zu verfallen. Das war eine Inszenierung, die auf die Dauer nicht funktionieren konnte, weil sie eher Wunschdenken entsprang als der Realität.
Erdogan hatte sein wahres Gesicht nie verborgen.
Wann hat Erdogan denn sein wahres Gesicht gezeigt? Bei der Wiederholung der Wahlen im Herbst 2015 oder bereits beim Abbruch der Aussöhnung mit den Kurden?
Er hatte sein wahres Gesicht nie verborgen. Erdogan war von Anfang an sehr klar in seinen Zielen. In Europa wollte man es einfach nicht wahrhaben.
Bereits im Jahr 2007 haben Sie einen Artikel über die Opposition mit dem Titel «Wir sind in diesem Land nur noch die Beilage» versehen.
Bereits vor 2007 wurden Kritiker der AKP als Befürworter eines möglichen Militärputsches diffamiert. Der Populismus an der Macht ist stets bestrebt, die Opposition als fremdgesteuert zu diffamieren und zu spalten. Vielen Intellektuellen wurde aber erst in einer späten Phase der AKP-Herrschaft schmerzhaft bewusst, dass sie einen autoritären Führer unterstützt hatten.
Warum haben Sie nie an die Versöhnung mit den Kurden geglaubt?
Der sogenannte Friedensprozess war nie transparent. Einige Männer der AKP und der PKK haben sich hinter verschlossenen Türen getroffen. Die Zivilgesellschaft wurde nicht einbezogen. Auch über die Ursachen des Abbruchs der Verhandlungen drang nie etwas an die Öffentlichkeit. So intransparent dieser Prozess war, so intransparent ging er zu Ende. Wie kann man an etwas glauben, wovon man nichts weiss?
Sie verloren Ihren Job als Journalistin Ende 2011, weil sie einen Artikel über die Bombardierung von Kindern durch die türkische Luftwaffe verfasst hatten. Haben Sie damals mit Ihrer Entlassung gerechnet?
Natürlich. Leute wie ich lebten und schrieben stets auf Messers Schneide. Ich habe damals nicht damit gerechnet, dass der Artikel je publiziert würde. Und ich wusste, dass eine Publikation meine Entlassung bedeuten könnte. Dieses Gefühl hatte ich allerdings schon bei einigen Artikeln, die ich zuvor verfasst hatte. Verglichen mit Kollegen, die inhaftiert wurden oder ins Exil gehen mussten, habe ich aber einen geringen Preis bezahlt, der eigentlich nicht der Erwähnung wert ist.
«Leute wie ich schrieben stets auf Messers Schneide.»
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie nach der Entlassung zum «ersten Opfer türkischer Lynchjustiz in der digitalen Welt» geworden sind.
Das war in der Tat schrecklich für mich und sehr verletzend. Man wollte an meinem Fall ein Exempel statuieren. Zu einer Entlassung kann man eine Haltung entwickeln. Wenn man aber von Tausenden von anonymen «Geistern» auf Social Media attackiert wird, kann man nichts tun. Ich bin nicht die Erste, der das passiert ist. Andere Opfer von Shitstorms sprachen von einem Schwertkampf mit Geistern. Das hat etwas. Man kann Geister nicht mit einem Schwert bekämpfen. Das sieht sehr hilflos und verrückt aus. Die Menschheit hat noch keine Antwort auf dieses Phänomen gefunden.
Sie beschreiben in Ihrem Buch einen extremen Wandel der Mentalität in der Türkei – zu einer Gesellschaft des Hasses und der Missgunst.
Freunde in der Türkei berichten, dass die Unzufriedenheit und das Unglück mit den Händen greifbar sind.
Aber Sie beschreiben nicht bloss eine unglückliche Gesellschaft, sondern auch eine hasserfüllte.
Das liegt in der Politik des Regimes begründet, das die Feindschaft gegen seine Gegner schürt. Dadurch fühlt sich jedermann legitimiert, Andersdenkende zu hassen. Eine misstrauische, feindliche Grundhaltung wird so zu einem Bestandteil der Mentalität. In der Türkei hat es immer Polarisierungen zwischen Türken und Kurden, Türken und Armeniern, Sunniten und Aleviten oder Linken und Rechten gegeben. Nun gibt es aber einen tiefen Graben zwischen den Supportern der AKP und allen anderen. Die Türkei ist zu einem Einparteienstaat geworden. Wer nicht dazu gehört, hat Angst, weil er im Fall einer Attacke auf der Strasse nicht auf den Schutz der Polizei oder der Gerichte zählen kann. Diese Angst gehört heute zum Alltag. Sie ist ungesund und traumatisierend.
Ist diese Atmosphäre mit ein Grund dafür, dass Sie das Land verlassen haben?
Ich lebe nicht im Exil. Meine Bücher werden in der Türkei nach wie vor gedruckt. Aber ich lebe zurzeit in Kroatien, um mich auf meine Arbeit als Schriftstellerin konzentrieren zu können. Die aufgeheizte Stimmung in der Türkei lässt das nicht zu.
In Ihrem Roman «Stumme Schwäne» sagt eine exilierte türkische Lehrerin: «Wegzugehen macht einen zu einem Waisenkind. Man wartet darauf, dass die Heimat einen zurückruft wie einen treuen Hund.»
Das sind exakt meine Gefühle.
Warten Sie auf diesen Rückruf?
Manchmal denke ich, dass es die Türkei, wie ich sie gekannt habe, nicht mehr gibt. Als ich aber vor der Abstimmung über das Referendum die vielen jungen Menschen gesehen habe, die auf den Strassen der grossen Städte protestierten, wusste ich, dass es die Türkei noch gibt. Das ist ein sehr emotionales Thema. Aber jedermann, der sein Land verlassen hat, hofft auf eine Rückkehr.
Sie haben in einer Kolumne geschrieben, Sie hätten sich von der Alltagsrealität zurückgezogen und seien in die Literatur geflohen.
Das stimmt. Aber wenn man aus einem Land wie der Türkei stammt, ist es unmöglich, unpolitisch zu sein. Literarisches Schreiben ist nicht unpolitisches Schreiben. Literatur ist auch politisch.
Sie schrieben, dass die Literatur in einer Gesellschaft der Propaganda dazu diene, die Schönheit der Welt für kommende Generationen zu bewahren. Das klingt nach Flucht.
Wenn die politische Macht in einem Land primitiv wird, ist es für die Kräfte der Opposition schwierig, nicht mit gleicher Münze zurückzugeben. So unternimmt die türkische Regierung zum Beispiel nichts gegen das grassierende Problem der Vergewaltigung von Kindern. Da kann man es nicht beim Hinweis bewenden lassen, dass Vergewaltigungen von Kindern zu unterlassen seien. Für diese Art von Verbrechen gibt es kaum Worte. Ich bin für mich zum Schluss gekommen, dass ich eine andere Sprache finden muss, um mich gegen die Verrohung der Gesellschaft zu wenden.
Sie wollen mit den Mitteln der Literatur diesen Verhältnissen etwas entgegensetzen?
Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch erst durch das Erkennen und das Schaffen von Schönheit zum Menschen wird. Daher muss man sich manchmal vom Bombardement der Realität zurückziehen, um sich fragen zu können, wie man Schönheit kreieren kann. Das ist nicht «nur» ein Akt des Protestes, sondern auch ein Akt der Menschlichkeit.
Im erwähnten Roman gibt es zwar Schönheit, aber auch viel Brutalität. So wird etwa beschrieben, wie es vor dem Militärputsch von 1980 eine Art Bürgerkrieg gegeben hatte.
Die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren eine schlimme Zeit. Aber etwas war damals anders als heute: Die Kategorien von gut und schlecht, von schön und hässlich hatten noch ihre Gültigkeit. In den letzten zwei Jahrzehnten hingegen haben sie sich zusehends vermischt. Im Kampf Erdogans gegen die Gezi-Proteste schrie eine seiner Anhängerinnen: «Ich bin das Haar in deinem Arsch.» Solche Phänomene wären vor zwanzig Jahren noch undenkbar gewesen. Das ist ein fundamentaler Wandel in der psychischen Grundstruktur des türkischen Volkes. Die Türkei war schon immer ein verrücktes Land. Aber die Verrücktheit war noch nie so pathologisch wie heute.
Im Roman thematisieren Sie auch die Liquidation eines Teils der Linken vor und nach dem Putsch von 1980.
In den internationalen Medien wird oft fälschlicherweise kolportiert, dass die Weichenstellung Richtung Ein-Mann-Herrschaft mit dem ersten Wahlsieg der AKP 2002 begonnen habe. Die Geschichte der Türkei der letzten Jahrzehnte wird als Geschichte der Zweiteilung zwischen der säkularen Armee und der islamischen AKP beschrieben. Diese Dichotomie gibt es nicht. Nach dem Putsch von 1980 begann die Armee die islamischen Bewegungen zu unterstützen, um die Islamisierung der Gesellschaft steuern zu können. Daher ist es überhaupt zur Gründung der AKP und zur Herrschaft von Erdogan gekommen. Die AKP und Erdogan sind die Frucht des Putsches von 1980. Daher habe ich den Roman in dieser Zeit angesiedelt.
Wieso hätte die Armee letzten Sommer denn noch putschen sollen?
Zurzeit spricht man in der Türkei von einem «kontrollierten Putsch». Die Wahrheit über diese Nacht dürfte erst in einigen Jahren bekannt werden. Es gibt keine Untersuchung der Vorgänge – weder durch das Parlament noch durch die Justiz. Über den Putsch von 1980 erfuhr man erst zwanzig Jahre später durch Abhörprotokolle, dass die CIA involviert war. Wir wissen also, wie ein Putsch aussieht, der von der CIA mitorganisiert wird. Das, was letzten Sommer geschah, war stümperhafter. Klar ist, dass der Putschversuch eine tolle Gelegenheit war, um eine Hexenjagd gegen die Reste der Opposition zu legitimieren.
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