Frankreich versteht sich auf die ganz grosse Inszenierung, die an Geist und Seele zugleich appelliert und ein Pathos verbreitet, das nicht hohl, sondern bedeutungsreich ist. Und dieser Präsident, Emmanuel Macron, ist die perfekte Verkörperung dieser Nation, ernsthaft und optimistisch wie deren Hymne, gravitätisch und schwungvoll, umarmend, bestimmend und durchaus ergriffen vom eigenen Sendungsbewusstsein.
Macron hat das Gedenken in Paris an das Ende des Ersten Weltkriegs dazu genutzt, sich und sein Land als Anführer einer freien, friedlichen Welt zu präsentieren. Er erinnerte an die Millionen Soldaten und Zivilisten, die der nationalistische Blutrausch verschlang. Doch er begnügte sich nicht damit. Vielmehr hielt er der Gegenwart einen Spiegel vor, in dem die Frevel der Vergangenheit schon wieder zu erkennen waren: die Überhöhung der eigenen Nation; die Herabwürdigung der anderen; und der ängstlich-aggressive Rückzug auf sich selbst, der leicht in neuer Gewalt explodieren kann.
Immerhin: Sie waren alle gekommen zu diesem Totengedenken und Friedensfest – 60, 70 Staats- und Regierungschefs unterschiedlichster Herkunft, Hautfarben und Überzeugungen, um den Worten des Präsidenten zu lauschen und ihm Beifall zu spenden. Ein Zeichen, dass die Welt gelernt hat aus den Gräueln der Geschichte; und dass sie heute auf Eintracht statt auf Spaltung setzt.
Neben Macron und Merkel sassen am Arc de Triomphe auch anders gesinnte Gäste
Doch ist es wirklich so? Oder zeugen die Bilder von Paris in Wahrheit nur von einem brüchigen Frieden, einem Scheinfrieden gar? Gewiss, die demonstrative Nähe Macrons und Angela Merkels zeigt, wie sich Hass – der Hass der einstigen «Erbfeinde» Frankreich und Deutschland – mit Grossmut, Beharrlichkeit und gutem Willen in Freundschaft verwandeln lässt. Und beide, der Präsident wie die Kanzlerin, beweisen durch ihre Politik, wie wichtig es ihnen mit der Versöhnung ist. Doch gleich neben ihnen sassen bei der Feier am Arc de Triomphe anders gesinnte Gäste: Donald Trump und Wladimir Putin, zwei Paten des Neonationalismus. Ihre Politik straft ihr Gedenken Lügen. Sie appellieren an den nationalen Egoismus und die Ressentiments ihrer Bürger und führen ihre Völker hinter gedankliche und reale Mauern und Stacheldrahtzäune zurück.
Der Frieden, der, zumindest im grössten Teil Europas, auf zwei Weltkriege folgte, ist in Gefahr. Während die Menschen am Sonntag in Paris das Ende von Hass und Gewalt feierten, marschieren in den Hauptstädten neben gut gesinnten Patrioten auch stramme Nationalisten auf. Die Ideen, die vor mehr als hundert Jahren die jungen Männer in die Schützengräben trieben, wabern hoch aus den Gräbern wie giftiges Gas. Sie durchdringen Regierungen von immer mehr Staaten, auch in Europa. Und sie sind längst wieder zu beiden Seiten des Rheins virulent.
Rassisten durchziehen die rechtsradikale Rassemblement National und die linksradikale Partei La France insoumise in Frankreich. Auch in Deutschland marschieren Rassisten durch die Städte und schwingen Reden im Bundestag. Politiker wie Macron und Merkel versuchen, sich gegen die Kräfte aus der Vergangenheit zu stemmen. Viele Bürger in Frankreich, Deutschland, Russland, Amerika, Polen oder Italien tun das auch. Sie brauchen, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, viel Kraft, um den Frieden zu erhalten.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Europas Frieden ist in Gefahr
Frankreichs Präsident Macron hält der Gegenwart den Spiegel vor. Unter seinen Zuhörern sind Trump und Putin – die Paten eines gefährlichen Neonationalismus.