Europas Infrastruktur bröckelt
Auch in Deutschland und Frankreich stehen baufällige Brücken. Ingenieure ziehen Vergleiche zum schlechten Zustand in den USA.
Die Schuldigen für die Katastrophe von Genua waren schnell benannt, private italienische Betreiberfirmen hätten unter Duldung des Staats die Infrastruktur verrotten lassen. Das sehe man nur schon daran, dass die Morandi-Brücke von Genua als fünftes Bauwerk in nur fünf Jahren eingebrochen sei, wie der «Corriere della Sera» schrieb.
Tatsächlich hatte Italien die Investitionen in den Unterhalt seiner Strassen im vergangenen Jahrzehnt markant zurückgefahren: 2006 waren es 14 Milliarden Euro, drei Jahre später noch 6 Milliarden, wie die Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen – offenbar eine Folge der Finanzkrise. Laut der Tageszeitung «La Repubblica» sind um die 300 Brücken und Tunnel marode. Grund dafür seien die veraltete Infrastruktur und die lückenhafte Instandhaltung.
Nur, mit diesem Problem steht Italien nicht alleine da, auch wenn Rom seine Investitionen zwischenzeitlich besonders stark vermindert hat. Doch die Finanzkrise hat Italien stärker gebeutelt als andere Industriestaaten. Selbst Deutschland, der Primus der Europäischen Union, hat ein Brückenproblem.

Die Autobahnen stammen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Die unmittelbare Nachkriegszeit war abgeschlossen, es herrschte Hochkonjunktur, es wurde gebaut. Die damaligen Ingenieure haben jedoch nicht mit dem heutigen Verkehrsaufkommen gerechnet. Es war unvorstellbar, dass es in den Ballungszentren täglich zu kilometerlangen Staus kommen würde. Entsprechend sind die Brücken aus jener Zeit, und damit auch jene von Riccardo Morandi, nicht für die heutige Menge an Schwerverkehrslast ausgestattet.
Augenfälliges Beispiel dafür ist die Leverkusener Rheinbrücke im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW). 1965 eröffnet, ist sie heute ein «baufälliges Nadelöhr» wie der «Spiegel» schreibt. Konzipiert für 40'000 Fahrzeuge schieben sich heute täglich 120'000 Autos darüber. Der Verkehr kommt regelmässig zum Erliegen, und immer wieder wird die Brücke für Notreparaturen gesperrt.

Seit 2014 ist die Rheinbrücke deshalb für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt. Mit politischen Folgen: Die damalige NRW-Regierungschefin Hannelore Kraft (SPD) durfte mit ihrer Regierungslimousine, einem gepanzerten Audi A8 mit 430 PS, nicht über die Brücke – zu schwer. Auch Krafts Nachfolger Armin Laschet muss Umwege nehmen, auch Angela Merkel muss aussen rum.
Ein Achtel der 40'000 Brücken in Deutschland ist angeblich in schlechtem Zustand. Betroffen ist vor allem das Gebiet der alten Bundesrepublik im Westen des Landes. Besser ist die Situation in den neuen Bundesländern. Nach der Wiedervereinigung wurde das Strassennetz in der ehemaligen DDR saniert. Die kommunistische Führung hatte die Verkehrsinfrastruktur völlig vernachlässigt, die Trabis fuhren zum Teil noch auf Hitler-Autobahnen.
«Der Zustand von Europas Infrastruktur, insbesondere der Brücken, ist vergleichbar mit der Situation in den USA.»
Osteuropa verfügt generell über moderne Strassen und Brücken. Nach der Wende von 1989/91 traten die meisten ehemaligen Sowjet-Satelliten 2004 der EU bei. Fortan finanzierte Brüssel die neuen Autobahnen mit. So wurden in Polen mithilfe von Geld aus Brüssel 3300 Kilometer Autobahn gebaut.
In den USA wären 3,9 Billionen nötig
In Westeuropa hingegen ist die Infrastruktur generell in die Jahre gekommen, der Lebenszyklus vor allem grosser Autobahnbrücken neigt sich dem Ende zu. In Frankreich etwa musste erst im Mai dieses Jahres eine Autobahnbrücke nördlich von Paris gesperrt werden. Hunderte weiterer Brücken sind ebenfalls marode. Zu diesem Ergebnis kommt ein vom französischen Verkehrsministerium in Auftrag gegebener externer Untersuchungsbericht. Er nimmt aber nur die rund 12'000 Brücken in den Fokus, für die der französische Staat verantwortlich ist und die nicht von privaten Firmen betrieben werden. Über diese Autobahnen und Landstrassen rollen 18,5 Prozent des französischen Strassenverkehrs.
Die EU-Kommission hat 2015 reagiert und ein Netzwerk gegründet, das sich mit den alternden Strassen und Brücken in Europa befasst. Ciaran McNally, Bauingenieur an der Universität Dublin, koordiniert das Projekt. «Der Zustand von Europas Infrastruktur, insbesondere der Brücken, ist vergleichbar mit der Situation in den USA», sagt McNally.
Eine alarmierende Aussage: Ein Report der American Society of Civil Engineers (ASCE) von 2017 stellt der amerikanischen Infrastruktur ein schlechtes Zeugnis aus. Bewertet wurden Autobahnen, Brücken, Kanäle und Flugplätze, aber auch Dämme und die Schulen. Um diese Basis des zivilisierten Zusammenlebens zu reparieren oder nur schon instand zu halten, fehlen dem Land derzeit 2 Billionen US-Dollar. Bis im Jahr 2025 sind es 3,9 Billionen, die nötig wären.
Mit Steuergeldern kauft man Zivilisation
Der Report des amerikanischen Ingenieurverbands zeigt damit die Folgen auf, wenn ein Land zu wenig in die kritische Infrastruktur investiert, die Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und Lebensqualität. Um Abhilfe zu schaffen, empfehlen die US-Ingenieure Investitionen von 2,5 bis 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Dafür müssten jedoch die Steuern erhöht und die Amerikanerinnen und Amerikaner aufgeklärt werden, was eine robuste Infrastruktur kostet. Dazu ist es in der Zwischenzeit nicht gekommen, wie wir wissen. In Europa, nicht nur in Italien, aber sollte man die Empfehlungen der amerikanischen Ingenieure prüfen. Denn mit Steuergeldern kauft man Zivilisation.
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