Farben für Farbenblinde
Mit einem System von Symbolen aus Portugal verstehen auch Menschen, die Farben nicht unterscheiden können, bunte Spielkarten oder Tram-Pläne.
Von Karla Pequenino, «Publico», Portugal
Mehr als 19 Jahre lange konnte Tiago Santos Farben nicht verstehen. Als Kind in Santa Maria da Feria, einer Stadt im Norden Portugals, hatte er Schwierigkeiten, die richtigen Buntstifte zu wählen. Für andere schien das einfach zu sein, aber wenn er einen Baum braun oder den Himmel blau anmalen wollte, lachten seine Mitschüler über die Farben, die er benutzte. «Ich dachte einfach, dass ich Farben nicht kapiere, so wie manche Leute Mathe nicht kapieren», sagt Santos, der heute 34 ist. «Es war mir peinlich und ich habe niemandem davon erzählt.»
Heute weiss Santos, dass er an einer genetisch bedingten Farbenfehlsichtigkeit leidet, sodass er bestimmte Farben nicht unterscheiden kann. Die meisten Menschen können etwa 30'000 verschiedene Farbschattierungen erkennen, bei Santos sind es etwa 800. Aber als er jung war, wurde in Portugal über Farbenblindheit nicht gesprochen. Der Junge liess seine Farbstifte oft zu Hause, sodass er seine Freunde bitten konnte, ihm die richtigen zu geben und so nicht ausgelacht wurde.
Reife Früchte auszuwählen, Kleider aufeinander abzustimmen, die U-Bahn-Linien zu verstehen – auch das waren grosse Herausforderungen. Erst als er zur Universität kam, erkannte Santos, warum er solche Probleme hatte und um Hilfe bitten musste, wenn es darum ging, bei Prüfungen in Geschichte Karten zu zeichnen. Aber die Diagnose machte sein Leben nicht leichter.
«Ich habe weitere 10 Jahre damit verbracht, so zu tun, als sei mit mir alles in Ordnung, damit ich nicht ständig um Hilfe bitten musste», sagt er. Er schämte sich für eine Schwäche, die nur wenige kannten. «Color ADD hat das geändert.»
Symbole statt Farben
2008 veröffentlichte ein portugiesischer Designer Miguel Neiva als Teil seiner Masterarbeit an der Minho-Universität ein neues System, mit dem verschiedene Farben durch Symbole identifiziert werden können. Mit Color ADD wird jede der drei Primärfarben (Rot, Gelb und Blau) durch ein geometrisches Symbol vertreten (Dreieck, Strich und umgekehrtes Dreieck). Indem diese Symbole miteinander kombiniert werden, können verschiedene Farben dargestellt werden; Orange etwa besteht aus einem Dreieck und einem Strich (die Verbindung von Rot und Gelb).

Neiva (49) sagt, es habe Jahre gedauert, das System zu perfektionieren. Er selbst hatte nie Probleme, Farben zu erkennen, aber ist mit dem Problem von Santos vertraut. «Ich hatte einen Mitschüler in der Klasse und gehörte zu der Gruppe, die ihn auslachte. Kinder sind grausam in ihrer Unschuld, wenn sie etwas nicht verstehen», sagt Neiva. «Damals schimpfte man nur Schiedsrichter, die einem Fussballspieler eine Rote Karte gaben, als farbenblind. Ich hatte Angst davor, so zu werden.»
Als Designer war es für Neiva wichtig, unterschiedliche Schattierungen erkennen zu können. Farbenblindheit betrifft etwa einen von 12 Männern und eine von 200 Frauen weltweit. «Das hört sich nicht nach sehr viel an, aber in einer Klasse mit 14 Jungen können schon zwei sein, die dieses Problem haben», sagt Neiva. Acht Jahre lang führte er in der ganzen Welt Interviews mit farbenblinden Menschen, bevor er sein «Spezialalphabet» erfand.
Automatische Erkennung via App
Heute kommt Color ADD an der Kleidung verschiedener portugiesischer Hersteller zum Einsatz, ebenso bei Buntstiften für Kinder, bei Kartenspielen oder im öffentlichen Verkehr. 2014 wurde es von Programmierern in Portugal genutzt für eine iPhone-App, die Farben automatisch mithilfe einer Smartphone-Kamera zuordnet. Das trug ihr ein Lob der UNO für ihre globale Bedeutung ein.
«Color ADD ist mehr als ein Code. Es hat es mir ermöglicht, mein Problem nicht mehr verstecken zu müssen. In einer Gesellschaft, die von Farben bestimmt wird, habe ich eine grössere Unabhängigkeit», sagt Santos, der die Smartphone-App täglich nutzt. «Miguel Neivas System hilft mir auch dabei, mit Leuten, die Farbenblindheit nicht kennen, darüber zu sprechen.»
Unternehmen und Institutionen, die Color ADD für ihre Produkte nutzen wollen, müssen eine Lizenzgebühr bezahlen. Aber es gibt auch kostenlose Versionen für Schulen und Universitäten. Das Geld geht an Color ADD Social, ein Projekt, mit dem das «Alphabet» von Neivas rund um die Welt in Schulen und Bibliotheken verbreitet wird. Aber der Designer meint, dass es noch viel zu tun gibt. Viele U-Bahn-Netze nutzen Color ADD noch nicht, das neue Betriebssystem iOS 11.9 behindert die iPhone-App und es gibt noch keine App für Android. «Es ist eine Herausforderung, die Relevanz des Projektes zu erhalten. Zwar sagen die Leute, dass sie Innovationen wünschen, aber gleichzeitig scheuen sie Veränderungen», sagt Neiva. «Color ADD hätte vor Hunderten von Jahren erfunden werden können. Es hat nichts mit moderner Technologie zu tun und ist leicht zu lernen.»
In Partnerschaft mit grossen Marken hat der Designer sein System bekannt gemacht. Eine neue Version des Uno-Kartenspiels für farbenblinde Spieler, das mit der Hilfe von Mattel entstand, ist ein Beispiel. «Aber ich möchte keine besonderen Produkte für farbenblinde Menschen schaffen. Ich möchte, dass jeder Farben versteht», sagt Neiva. «Ein Grund, warum das Alphabet funktioniert, ist, dass ich selbst nicht farbenblind bin. Es gibt verschiedene Formen der Farbenblindheit, aber mein Code überwindet sie alle, weil ich mich nicht auf eine bestimmte Version konzentriert habe. Wir Menschen leisten das Beste, wenn wir anderen helfen.»
Aus dem Englischen übersetzt von Hans Brandt

«Publico»/ Portugal/Karla Pequenino
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