
Für die Polizisten war es eine «Lappalie». Ein junger Mann schüttete einem anderen Mann nach einem Spiel des FC Winterthur ein Bier über den Kopf. Nun mussten sie, die sonst mit komplexen Straffällen zu tun haben, aufklären, was genau geschehen ist. Dazu zeigten sie verständlicherweise wenig Lust.
Die Polizisten mögen auch recht haben, wenn sie von einer «Lappalie» reden. Es ging nur um eine Tätlichkeit mit geringer Beschädigung eines Anzugs. Und doch zeigt sich heute: Die Auswirkungen des Vorfalls sind gravierender. Beim Beschütteten handelt es sich um Mario Fehr, den Regierungsrat. Und deshalb geht es bei der Bieraffäre um mehr. Um Grundsätze des Zusammenlebens in der Demokratie. Dies aus drei Gründen.
Unwürdiges Vorgehen
Erstens wegen des Motivs des jungen Mannes. Das Ausschütten von Bier auf politische Gegner ist inakzeptabel. In einer Demokratie sollte nicht nur ein breites Spektrum von Meinungen Platz haben, Menschen sollten sich in ihr auch frei bewegen können und nirgendwo ausgegrenzt werden. Insofern ist das ausgeschüttete Bier ein Angriff auf die Demokratie. Der junge Mann ärgerte sich über die Politik des SP-Regierungsrats. Mario Fehr hatte im Frühling 2017 beschlossen, abgewiesenen Asylbewerbern das Leben schwer zu machen. Sie sollten nur noch Nothilfe erhalten, wenn sie in bestimmten Unterkünften übernachten und ihre Anwesenheit täglich per Unterschrift bestätigen. Ein weiterer Schritt in der Politik der Ausgrenzung abgewiesener Asylbewerber, um sie dazu zu bringen, die Schweiz wieder zu verlassen.
Jenen Politiker, der eine solche Politik verantwortet, wollte der junge Mann nicht in der Libero-Bar des traditionell linken FC Winterthur sehen. Also schüttete er ihm ein Bier über den Kopf, demütigte ihn und erreichte schliesslich sein Ziel. Mario Fehr verliess die Bar.
Ebenso undemokratisch war dann jedoch die Reaktion des Regierungsrats auf die Bierattacke. Und das ist der zweite Grund, weshalb es hier um mehr als eine «Lappalie» geht. Neben der Meinungsfreiheit gehört die Gleichbehandlung aller Menschen zum Grundprinzip des demokratischen Rechtsstaats. In Zürich ist klar im Gesetz geregelt, wer in einem Fall wie der Bierattacke ermittelt. Tätlichkeiten und damit verbundene Sachbeschädigungen sind Antragsdelikte. Die Polizei ermittelt nur, wenn ein Strafantrag gestellt wird. In Winterthur ist für diese Delikte die Stadtpolizei zuständig, so steht es im Polizeiorganisationsgesetz. Wenn der Strafantrag bei der Kantonspolizei eingereicht wird, hätte sie also die Möglichkeit, diesen an die Kollegen der Stadtpolizei weiterzugeben. Von dieser Möglichkeit sah sie jedoch ab. Denn grundsätzlich werden solche Anzeigen standardmässig durch die Kantonspolizei bearbeitet, in diesem Fall also durch die direkten Untergebenen des Opfers.
Das zeugt von mangelnder Sensibilität der Kantonspolizei. Aber es zeugt auch von einer Blindheit von Fehr. Als politischem Vorsteher müsste ihm die mögliche Befangenheit bewusst sein. Dass er einen Strafantrag einreicht, ist sein gutes Recht. Doch er hätte ihn bei der Stadtpolizei Winterthur einreichen sollen.
Dass Fehr die Situation nicht so einschätzte, überrascht kaum einen Politiker, Journalisten oder Angestellten, der mit ihm zu tun hat. Alle wissen, wenn Fehr persönlich kritisiert wird, reagiert er heftig und fixiert sich darauf, das Bild in seinem Sinn geradezurücken. Dazu passt auch der folgende jüngste Vorfall: Als am Montag zwei Journalisten des Onlinemagazins «Republik», die als Erste über die Bieraffäre berichteten, Fehr im Rathaus Fragen stellten, reagierte er ungehalten. Er beklagte sich bei Moritz von Wyss, dem Leiter der Parlamentsdienste des Kantonsrates, die Journalisten hätten sich ins Gebäude geschlichen. Von Wyss antwortete bloss: «Dies ist ein öffentlicher Raum.» Auch diese Reaktion von Fehr zeugt von einem mangelnden Verständnis der Demokratie. Die Medien haben in einer demokratischen Gesellschaft die wichtige Aufgabe, gewählte Politiker zu kontrollieren. Ob es ihnen passt oder nicht.
Dies führt zum dritten Grund, weshalb die Bieraffäre keine «Lappalie» ist. Fehr scheint nicht die Demokratie, sondern vor allem sich selber im Auge zu haben. Nach kritischen Zeitungsberichten droht er Journalisten mit rechtlichen Schritten. Politiker, die in sozialen Medien kritische Beiträge posten oder liken, ruft er persönlich an. So will er verhindern, dass die Beiträge verbreitet werden.
Politische Aufarbeitung
Für die Polizisten ist die «Lappalie» mittlerweile abgeschlossen. Als Fehr erfuhr, wer der mutmassliche Täter war – der Sohn einer SP-Regierungsrätin –, einigte er sich mit ihm und zog den Strafantrag zurück. Ein Vorgehen, das durchaus für Fehr spricht. So sieht es die Strafprozessordnung vor.
Politisch muss der Fall aber in all seinen Dimensionen aufgearbeitet werden. Die Alternative Liste hat diesbezüglich am Montag mehrere Fragen eingereicht.
Diese Affäre sollte vor allem eines zeigen: Wer die Demokratie hochhält, muss sich ihren Grundsätzen unterordnen. Gemeint ist in diesem Fall nicht nur die Gleichbehandlung aller. Gemeint ist auch die Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit frei bewegen zu können, ohne angegriffen oder ausgegrenzt zu werden.
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Fehrs Bieraffäre ist mehr als eine Lappalie
Warum es undemokratisch ist, einen Regierungsrat mit Bier zu überschütten – und was Fehrs Reaktion problematisch macht.