
Sie loggen sich um 6 Uhr morgens ein, checken den Posteingang und beantworten die dringlichen Mails. Dann folgt das Frühstück. Sie bringen Ihre Kinder zur Schule und ab ins Geschäft. Weitere 30 Mails. Dann folgen im Stundentakt Meetings. Zu Mittag muss ein Salat über der Tastatur oder ein Sandwich in der Sitzung reichen.
Am Nachmittag gilt es, das Projekt abzugeben. Es reicht nicht ganz. Um halb sechs warten die Kinder, um abgeholt zu werden. Einkaufen, Znacht machen, die Gutenachtgeschichte. Und dann noch von zu Hause aus das Projekt fixen, zwei Calls mit Amerika und die letzten Mails. Um 23 Uhr ist Schluss.
So ungefähr stellen sich Wirtschaftsprüfer, Berater, IT-Leute und Projektleiter grosser Firmen die Work-Life-Balance vor. Ansprüche von Familie und Karriere werden vereinbar. «Pro Tag können es 16 Stunden sein, pro Woche 60 bis 70 Stunden», sagte vor einem Jahr der damalige Präsident des Beraterverbandes Expertsuisse, Dominik Bürgy, dieser Zeitung. Er fügte an, 70 Stunden pro Woche arbeiten sei «nicht per se ungesund», solange man sich erholen könne. Ihm selber, alleinerziehender Vater, erlaube es die Flexibilisierung, «um 18 Uhr zu Hause zu sein, mit meinem Kind Znacht zu essen und danach bis 22 Uhr oder Mitternacht zu arbeiten».
Würde Sie dies glücklich machen?
Jedenfalls ist ein solcher Einsatz heute illegal. Verzweifelt suchen Wirtschaftsprüfer und Berater, die IT, Banken und Konzerne nach Lösungen und drängen auf eine starke Lockerung des Arbeitsgesetzes. Zwischen fünf Uhr morgens und Mitternacht sollen normale Arbeitseinsätze von 14 Stunden Dauer möglich werden – die Gewerkschaften befürchten sogar 17 Stunden Erreichbarkeit. Und Homeoffice soll am Sonntag erlaubt sein.
Ein paar Mails checken, wie die Ständerate sagen, sollte tatsächlich möglich werden, ohne dass man ins Gefängnis kommt. Doch von so früh bis so spät? Die Wirtschaftskommission, die den Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung schickte, schreibt im begleitenden Bericht, eine Flexibilisierung sei «nicht nur für die Organisation der eigenen Firma von Vorteil, sondern auch der Gesundheit eher förderlich, wenn man die Arbeitszeit freier und autonomer gestalten kann». Im Vergleich zu heute sei sie für die Arbeitnehmenden motivierender und reduziere Stress.
Die Aussage hatten sie aus einem nicht veröffentlichten Arbeitspapier eines Uniprofessors im Auftrag von Expertsuisse. Sie haben aber vergessen zu ergänzen, dass ein autonomes Arbeitsmodell auf einer wichtigen Voraussetzung beruht: dass Angestellte sich nur gesund fühlen, solange ihr Tag nicht vollgestopft mit Meetings und Abgabeterminen ist. Umgekehrt aber wird flexible Arbeitszeit zum Highway zur Klinik.
Auch verschweigen die Ständeräte, dass es bis heute keine wissenschaftliche Evidenz gibt, wonach Leute gesund bleiben, wenn sie drei bis sechs Monate Volldampf 80 Stunden pro Woche arbeiten, um danach monatelang zu kompensieren.
All das stand im Arbeitspapier. Expertsuisse wusste es und hielt das Papier zwei Jahre lang, bis vor einigen Tagen, unter Verschluss. Die Ständeratskommission verschwieg, was nicht ins Bild des motivierenden flexiblen Arbeitsmodells passt. Redlichkeit ist anders.
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Flexibel arbeiten macht nicht automatisch gesund
Ständeräte sollten Studien genau lesen, bevor sie Gesetze entwerfen. Und sie dürfen Gegenargumente nicht unterschlagen.