Franz Liszts Assistent vom Zürichsee
Der Nachlass des Komponisten Joachim Raff (1822–1882) hält einige Entdeckungen bereit. Ein Besuch im Raff-Archiv in seinem Geburtsort Lachen SZ.
Als der Komponist und Musikpädagoge Joachim Raff 1882 starb, reagierte Johannes Brahms in einem Brief «erschreckt und betrübt». Clara Schumann war «tief erschüttert». Der Dirigent Hans von Bülow brach bei seinem Kondolenzbesuch schluchzend über Raffs verwaistem Schreibtisch zusammen. Und Franz Liszt schrieb der Witwe, Raff sei ihm «als Freund und Kunstgenosse» nahe gewesen wie nur wenige.
Diese Briefe und Geschichten kann man in der letzten Vitrine der Ausstellung im Raff-Archiv in Lachen SZ nachlesen, das kürzlich am Seeplatz 1 eröffnet worden ist – dort, wo der Lehrerssohn Joachim Raff 1822 geboren wurde. Es sind deutliche Zeichen dafür, welches Ansehen er zu Lebzeiten genoss. Nach seinem Tod wurde er dann allerdings rasch und ziemlich radikal vergessen. Seine Musik passte weder in die neudeutsche noch in die konservative Schublade, und mit seiner zuweilen besserwisserischen Art hatte er sich nicht nur Freunde gemacht. Auch seine persönliche Zurückhaltung mochte eine Rolle gespielt haben; Marketing in eigener Sache war nicht seine Spezialität, es gibt kaum Gemälde und Fotografien von ihm.
Dass in den letzten Jahren dennoch eine Raff-Renaissance eingesetzt hat, ist das Verdienst des Lachener Musikkenners und Laufbahnberaters Res Marty. Seit 1973 leitet er die Joachim-Raff-Gesellschaft, die sein Vater gegründet hatte; seither engagiert er sich ebenso kompetent wie unermüdlich für Raffs Nachruhm. Das Archiv ist nun sein neuester Coup: genau an der richtigen Adresse, stilvoll eingerichtet, finanziell zumindest für die nächsten Jahre solid ausgestattet, mit prächtigem Blick auf den See.
Obdachlos auf dem Platzspitz
Hier ist nun alles deponiert und sortiert, was Marty in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen hat: Autografe und Erstausgaben, Raffs Stimmgabel und seine unverblümt kritische Schrift «Die Wagnerfrage», die einst einigen Wirbel verursachte. Und natürlich auch Martys eigene, 2014 erschienene Raff-Biografie, die eine Fundgrube ist für alle, die sich für die Lachener Lokalgeschichte interessieren. Oder für Musikgeschichte. Oder für gute Geschichten überhaupt: Denn Raffs Leben war eine wirklich gute Geschichte.
Begonnen hat sie mit einem Brief an Felix Mendelssohn: Joachim Raff, damals Lateinlehrer in Rapperswil, schickte ihm Werke von sich. Die Antwort war so ermutigend, dass er seinen Posten kündigte – und dann eine Weile lang obdachlos auf dem Zürcher Platzspitz übernachtete. Von dort aus wanderte er 1845 in strömendem Regen nach Basel, wo der grosse Franz Liszt auftrat. Dieser verschaffte Raff erst einen Job in einem Kölner Musikalienhandel und holte ihn dann 1849 als Assistenten nach Weimar.
Damit begann Raffs Karriere als «Meister deutscher Tonkunst», wie es auf der ersten Gedenktafel an seinem Lachener Geburtshaus hiess. Weimar war damals ein höchst lebendiges kulturelles Zentrum, und er war mittendrin, führte Liszts Korrespondenz, half ihm beim Orchestrieren und kannte jeden, der hier eine Rolle spielte. Fast täglich schrieb er in seiner winzigen, fast beängstigend ordentlichen Schrift an seine Verlobte Doris Genast, die als Schauspielerin in Wiesbaden lebte, und berichtete ihr von den Intrigen und Affären der Berühmten, von politischen und kulturellen Entwicklungen.
Diese Briefe (respektive Kopien davon) sind nun in dicken Ordnern im Raff-Archiv gesammelt, zusammen mit vielen weiteren, die Raff erhielt oder schrieb; 2800 sind es insgesamt, und sie dürften nicht nur Raff-Forscher interessieren. Auch wer über Liszt oder Schumann, Wagner oder Brahms, über Weimar und Raffs spätere Wirkungsstätten Wiesbaden und Frankfurt am Main etwas wissen will, wird hier auf Trouvaillen stossen.
Entdeckungen garantiert
Das ist es, was Raff so interessant macht: Er war vernetzt mit allen Grossen, zu denen er durchaus zählte (auf der Fassade der 1890 gebauten Genfer Victoria Hall etwa steht sein Name neben jenen von Schubert, Wagner und Co.). Nicht nur in Weimar, sondern später auch als Direktor des Frankfurter Konservatoriums – wo er Clara Schumann als Lehrerin einstellte – bewegte er sich in Brennpunkten des Musiklebens. Aber sein Nachlass liegt noch zu einem beträchtlichen Teil brach: Entdeckungen sind garantiert.
Das gilt auch bei den Werken, welche die Raff-Gesellschaft neuerdings in Zusammenarbeit mit dem renommierten Verlag Breitkopf & Härtel herausbringt. Von einer Gesamtausgabe will man noch nicht sprechen, vorerst geht es um «gesammelte Werke» – und darum, Notenmaterial aufzubereiten, um Aufführungen von Raffs Musik zu erleichtern. Das Interesse daran ist vorhanden, das Tonhalle-Orchester plant eine CD-Aufnahme, das Musikkollegium Winterthur ebenfalls, Konzerte in Berlin und New York sind angesetzt.
Und Res Marty denkt längst weiter: an die Digitalisierung aller Briefe, an die Edition ausgewählter Passagen, die zu Raffs 200. Geburtstag geplant ist. Und an Konzerte natürlich, an möglichst illustren Orten und auch im Lachener Archiv. Ein Hammerflügel aus Raffs Zeit steht bereits dort. Er muss nur noch gestimmt werden.
Joachim-Raff-Archiv: Lachen, Seeplatz 1; Öffnungszeiten auf Anfrage. www.joachim-raff.ch.
Stadthaus Winterthur, 3. Oktober, 19.30 Uhr: Thomas Zehetmair dirigiert Raffs Ouvertüre «Ein feste Burg ist unser Gott».
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