Frau am Zug
Noch nie lenkten so viele Frauen die Loks der SBB wie 2016. Maja Fischer musste sich dafür lange gedulden – und erntet heute auch von Männern Anerkennung.

Es geschah auf einem Perron des Bahnhofs Oerlikon ZH: Eine zierliche Frau wartet auf ihren Zug. Als die Lok an Maja Fischer vorbeibraust, keimt jener Wunsch, der sie ein Jahrzehnt nicht mehr loslassen wird. Sie will diese imposanten Fahrzeuge lenken. Damals, Ende der 1990er-Jahre, ist der Führerstand aber fest in Männerhand. Schweizweit arbeiteten knapp zehn Frauen als Lokführerinnen, denn erst 1988 gehören die Rekrutenschule und eine technische Lehre bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) nicht mehr zu den Zulassungsbedingungen.
«Der Gedanke, in dieser Männerwelt zu arbeiten, war für mich nie eine Hürde, vielmehr eine Herausforderung», erinnert sich Fischer heute. Aufmerksam blickt sie in den grossen Rückspiegel auf den Perron, auf dem sie vor zwanzig Jahren die Weichen ihres Berufslebens stellte. Pünktlich um 17.08 Uhr setzt sie die S 24 Richtung Zug in Bewegung.
Die 23-Jährige fackelte seinerzeit nicht lange und wurde bei den SBB vorstellig. Diese hatten aber ihren hohen Bedarf an Lokpersonal für die neue S-Bahn eben erst gedeckt. Obschon es a prima vista nicht nach Fahrplan lief, liess die gelernte Bibliothekarin nicht locker: Wiederholt bewarb sie sich bei der Ostschweizer Regionalbahn Thurbo, musste aber Kandidaten aus der Verkehrsbranche den Vortritt lassen. Zehn Jahre gingen ins Land, bis ihre Karriere als Lokführerin endlich Fahrt aufnahm: Maja Fischer tritt ihre Ausbildung bei den SBB im Depot in Winterthur an, schliesst sie 2009 ab und zählte zu jener Zeit zu den rund 50 Frauen, die bei den SBB im Führerstand arbeiteten. Heute hat sich diese Zahl mehr als verdoppelt und 2016 mit 131 weiblichen Lokführerinnen ein Allzeithoch erreicht.
Vom Bücherwurm zum Zugvogel
Die Faszination für die Bahn wurzelt in Fischers Jugend. Für das Mädchen aus Elm war sie jeweils der Weg aus dem engen Glarner Tal hinaus in die weite Welt. Der Zug bedeutete für sie ein Stück Freiheit. Nach der Matura trat sie ihre Ausbildung in der Landesbibliothek des Kantons an und kehrte danach der Liebe wegen dem Glarnerland den Rücken. «Als ich mich in Schaffhausen niederliess, erschien mir der weitläufige Rhein so grenzenlos wie ein Meer.»

Nach einem Abstecher nach Winterthur lebt Fischer heute in Schlatt TG, unweit vom Depot in Schaffhausen. Hier beginnen und enden ihre Fahrpläne. Dadurch gehört der Strom nun zu ihrem Alltag. Ständig quert sie ihn mit der S24 oberhalb des Rheinfalls. «Seit ich auf den Schienen unterwegs bin, erlebe ich die Natur und die Jahreszeiten viel bewusster.» Am liebsten ist ihr der Frühling, wenn die Natur in Blüte Spalier steht. Faszinierend sei es aber auch, zu erleben, wie sich entlang der Geleise Quartiere entwickeln. Etwa die Europaallee, die sie mit der S 24 passiert, kurz bevor sie um 17.16 Uhr auf Gleis 4 in den grössten Bahnhof der Schweiz einfährt.
Der Zürcher HB ist im Wesentlichen ein Kopfbahnhof. Hier ist für Maja Fischer vorerst Endstation. Der Pünktlichkeit willen. Ihre S24 muss Zürich um 17.21 Uhr wieder verlassen – in derselben Richtung. Diese fünf Minuten reichen der Lokführerin nicht, um ans andere Zugende zu wechseln, denn diese S 24 besteht aus zwei Kompositionen und ist 200 Meter lang. Deshalb steigt einer ihrer Kollegen auf der anderen Seite ein.
«Manchmal kommt es vor, dass mir die Leute anerkennend zunicken – das machen aber vor allem ältere Damen.»
Dass eine Frau den Führerstand verlässt, reisst einige der aussteigenden Passagiere für wenige Augenblicke aus ihrer Pendlerlethargie. Dann hetzen sie weiter. «Manchmal kommt es vor, dass mir die Leute anerkennend zunicken – das machen aber vor allem ältere Damen», sagt Fischer schmunzelnd, während sie aufs Gleis 7 wechselt. Dort übernimmt sie eine alte Lok, die nach der Einfahrt in den Sackbahnhof vom Zug abgekoppelt wird und vorerst in Zürich bleibt.
«Hej Maja!» Einer der Rangierarbeiter tritt zu ihr. «Wohin gehst du damit?» Er muss ins Depot und sucht eine Mitfahrgelegenheit. Es scheint für ihn keinen Unterschied zu machen, dass vor ihm kein Mann, sondern eine der wenigen Frauen steht. «Ich fahr aufs E86, willst du mit?», entgegnet Fischer freundlich. Dankbar nimmt der Arbeiter ihr Angebot an, mit ihr bis zum Abstellgleis zu fahren.
Lokführer sind gesellige Einzelgänger
Dort draussen, inmitten der zahlreichen Geleise am Fusse des Prime Towers, heisst es für Maja Fischer warten. Die Lok und sie müssen erst in einer knappen Stunde wieder an die Arbeit. Hier ist sie alleine. «Ich nutze diese inoffiziellen Pausen oft, um zu lesen oder Unterlagen zu studieren.» Alleinsein. In der Stellenausschreibung, mit der die SBB nach Lokführern suchen, kommt dieses Wort nicht vor. Trotzdem ist es ein Merkmal des Berufs.
Für Maja Fischer gar eine der Eigenschaften, die sie daran besonders liebt. «Ich mag die Eigenverantwortung, die ich trage, und bin gern allein unterwegs.» Die Lokführerin ist eine gesellige Einzelgängerin. Sie geniesst die Einsamkeit genauso wie das Vereinsleben als Sopranistin oder die Rudertouren auf dem Rhein mit Gleichgesinnten.
«Ich stoppe heute auch im Auto behutsamam Rotlicht.»
Ihre unregelmässigen Arbeitszeiten fordern von der Alleinstehenden aber eine sorgfältige Planung ihrer Termine. «Meine Freunde wissen nicht immer, wann ich fahre. Deshalb muss oft ich die Initiative ergreifen, wenn ich sie sehen will.» Das war gewöhnungsbedürftig. Da die Arbeitspläne aber in der Regel lange im Voraus bekannt sind, funktioniere das gut. Die gute Organisation ist aber nicht die einzige Auswirkung, die Fischers Job auf ihr Leben hat: «Ich stoppe heute auch im Auto behutsam am Rotlicht oder erwische in meiner Freizeit den Zug meist nur auf den letzten Drücker.» Sie lächelt, geniesst zwischen den Geleisen die Sonne. Zudem nehme sie es privat mit der Zeit nicht mehr ganz so genau. «Schliesslich muss ich bei meiner Arbeit immer superpünktlich sein – das reicht mir.»
Auf die Minute genau setzt sie die rote Lok wieder in Bewegung, um sie an die Spitze eines eingefahrenen Zuges zu stellen. Das benötigt besonderes Fingerspitzengefühl. Der Rangiervorgang soll weder die Passagiere stören noch das Fahrmaterial schädigen. «Früher war ich beim Andocken immer extrem nervös.» Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Konzentriert, aber gelassen fährt Fischer die Lok an den vordersten Wagen – beobachtet von den Rangierarbeitern, die darauf warten, das Zugfahrzeug anzukoppeln.
Maja Fischer tritt an diesem Tag in Zürich ihre Pause an – aber erst, nachdem sie die Handstangen neben der Tür des Führerstands mit einem Tuch abgewischt hat. «Das gehört dazu. So bekommt der Kollege, der als Nächster einsteigt, nicht den ganzen Dreck ab.» Diese Geste ist einer der wenigen Teammomente im Lokführeralltag. Es macht Fischer nichts aus, anders als zuvor als Bibliothekarin, keinem festen Team anzugehören. Im Gegenteil. «Ich bin froh, nicht täglich mit den zwischenmenschlichen Reibereien zu tun zu haben.»
Viereinhalb Stunden ohne WC unterwegs
Die schlanke Frau mit dem modischen Kurzhaarschnitt bahnt sich in der Pendlermenge den Weg zum Personalbereich im Nordtrakt des HB. Neben Ruhe- und Aufenthaltsräumen findet sie dort Toiletten. Das erste stille Örtchen seit Fischers Arbeitsbeginn vor fast vier Stunden. «Wir sind bis zu viereinhalb Stunden ohne WC unterwegs – das ist gerade für Frauen nicht immer einfach.» Denn nur im äussersten Notfall benutzen die Lokführer die Zugstoilette, weil unterwegs dafür nicht genug Zeit bleibt.
Der Zürcher Bahnhof bietet neben der Personalkantine etliche Verpflegungsmöglichkeiten. Hier trifft die Lokführerin auch auf zahlreiche Kollegen. «Noch keiner hat mir das Gefühl gegeben, als Frau nicht willkommen zu sein.» Das war während ihrer Ausbildung nicht anders, als die Lokführerinnen noch deutlicher in der Minderheit waren. «Ich wurde nicht anders behandelt als meine Kollegen», sagt Fischer.
Respektvollerer Ton dank Frauen im Klassenzimmer
Trotzdem macht es jeweils einen Unterschied, ob Frauen in einem Klassenzug sind. Das weiss Ausbildungschef Beat Nyffeler, der in den vergangenen fünf Jahren 21 Klassen begleitet hat. «Durch sie ist der Ton im Klassenzimmer oft respektvoller.» Die Schülerinnen fielen ihm zudem durch zurückhaltenderes und bescheideneres Verhalten auf. «Obwohl sie dafür oft keinen Grund haben.»
Auch Maja Fischer macht ob ihrer Person kein grosses Aufsehen, als sie zackigen Schrittes den Perron entlangschreitet, wo in wenigen Minuten die S 24 nach Zug einfahren wird. Wohl kaum ein Passagier vermutet, dass diese Frau gleich in den Führerstand klettern wird. Die meisten Pendler sind zu Hause, weshalb diese S-Bahn nur halb so lang ist wie jene, die Fischer nach Zürich fuhr. Der Zug ist zudem eine Generation älter. Sie nimmt auf dem grossen Sessel Platz – und lässt ihn erst mal etliche Zentimeter runter.

«Es macht Spass, die verschiedenen Lok-Generationen zu lenken. Das bringt Abwechslung.» Zuweilen fehlt diese den Lokführern der kleineren Depots wie Schaffhausen. Sie sind kaum im Fernverkehr eingebunden und fahren häufig dieselben Strecken – etwa die S 24 zwischen Thayngen und Zug. «Die Monotonie macht es zuweilen nicht einfach, konzentriert zu bleiben.» Fischer behilft sich dann jeweils, indem sie sich vergegenwärtigt, wie viel Verantwortung sie trägt. «Das bringt die nötige Ehrfurcht.»
Nächtlicher Zwischenfall bei garstigem Winterwetter
Auf der Fahrt nach Zug passiert Maja Fischer bei Oberrieden eine Weiche, die sie so schnell nicht vergessen wird. Der Zwischenfall geschah im vergangenen Winter. Sie war in der Nacht und bei garstigem Wetter unterwegs, als die Fahrdienstleitung sie kontaktierte. Diese wies die Lokführerin an, anderthalb Kilometer vor der Weiche zu stoppen, weil diese nicht umsprang. Obschon es eigentlich nicht zu den Aufgaben eines Lokführers zählt, bat man Fischer, rauszugehen, um nachzusehen, ob etwas die Weiche verklemmte.
Sie informierte die Passagiere, schloss den Führerstand und stapfte los. «Die Weiche schien in Ordnung.» Was sie den Zuständigen per Mobiltelefon mitteilte. Diese forderten die Lokführerin auf, mal kräftig gegen die Weiche zu treten – die weiterhin keinen Wank machte. «Beim dritten Versuch sprang sie dann endlich um.» In Kälte und Dunkelheit machte sich die zierliche Frau auf den Weg zurück zu ihrem Zug. Dieser Zwischenfall ist eine der wenigen Situationen, von denen die Lokführerin sagt: «Für einen Mann wäre es einfacher gewesen.»

Die S24 hat die Endstation erreicht. Maja Fischer wechselt im Bahnhof Zug zügig ans andere Zugende. Acht Minuten später ist die S24 nach Thayngen startklar. Es dunkelt. In den Häusern neben den Gleisen gehen die Lichter an. Auf dem Zugsteig haben die gehetzten Pendler knutschenden Liebespaaren Platz gemacht. «Es ist faszinierend, zu beobachten, wie sich die Stimmung in den Bahnhöfen im Laufe des Tages verändert», sagt Maja Fischer, als sie in ihrer Lokomotive im Oerliker Bahnhof den Perron entlangfährt.
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