Freiheit oder Sicherheit
Tempolimits auf Autobahnen sind in Deutschland ein umstrittenes Thema – ein Faktencheck.

Argument 1: Sich die Freiheit nicht nehmen lassen.
Es ist stets eines der ersten Argumente, die fallen – und das emotionalste. Denn eigentlich ist «der Verkehr einer der am geregeltesten Lebensbereiche, die wir haben», sagt Psychologe Bernhard Schlag von der Uni Dresden. Jedes Detail ist vom Gesetzgeber festgelegt, es existieren Verordnungen fürs Parken, für den Abstand beim Autofahren, für die Vorfahrt. Nur ein generelles Tempolimit auf Autobahnen gibt es nicht. Deswegen klammern sich viele an diese vermeintliche Freiheit, ohne zu realisieren, dass diese gar nicht existiert, da sie immer in Relation zu anderen Verkehrsteilnehmern steht und letztlich eine Durchsetzung von eigenen Vorteilen ist. Schlag: «In anderen Lebensbereichen wäre das undenkbar.»
Argument 2: Die Demokratie hat entschieden, die meisten sind gegen ein Tempolimit.
Das gilt für die Abstimmung im deutschen Bundestag vom 17. Oktober, aber nicht für die deutsche Bevölkerung. Immer wieder wurden 2019 repräsentative Umfragen zu diesem Thema erhoben. Das Ergebnis all der Befragungen: Eine knappe Mehrheit ist für ein Tempolimit auf Autobahnen. Nur wie hoch dieses sein soll, darüber variieren die Meinungen. Bei YouGov sprachen sich 53 Prozent für Tempo 130 aus, bei Forsa dagegen forderten 57 Prozent eine Begrenzung im Schnitt von 136 Stundenkilometern, in einer weiteren Umfrage des Meinungsforschungsinstituts stimmten 52 Prozent für maximal 130 km/h.
Argument 3: Es gibtkaum noch freie Autobahnstrecken.
Vielen Menschen mag es durch das steigende Verkehrsaufkommen und die gefühlt hohe Anzahl von Baustellen so vorkommen, aber für mehr als zwei Drittel aller Autobahnkilometer gibt es kein permanentes Tempolimit. Das Gesamtnetz deutscher Autobahnen umfasst 25 767 Kilometer in beide Fahrtrichtungen (Stand 2017), auf 18 115 Kilometern gibt es keine Tempobegrenzung. Das entspricht 70,4 Prozent.
Argument 4: So viele Menschen fahren gar nicht schneller als 130 km/h.
Das stimmt – zumindest in Relation. Zwischen 2010 und 2014 wurden die Auswirkungen eines Limits von 120 km/h auf Autobahnen untersucht. Demnach fahren 60 Prozent aller Autofahrer maximal Tempo 130. 15 Prozent pendeln sich bei 130 bis 140 Stundenkilometer ein, 25 Prozent fahren schneller als Tempo 140.
Argument 5: Die Reisezeitist kürzer, wenn man schneller fahren kann.
Das lässt sich nachrechnen: Ein Autofahrer, der konstant mit 130 km/h unterwegs ist, braucht für eine Strecke von 100 Kilometern 46 Minuten. Wenn er im Schnitt Tempo 160 fährt, sind es 37,5 Minuten. Eine Ersparnis von 8,5 Minuten. Auch ein Praxistest der «Heilbronner Stimme» bestätigt das: Die Fahrerin, die die Geschwindigkeit ausreizte, legte die 262 Kilometer von Heilbronn nach Trier auf der Autobahn in zwei Stunden und 15 Minuten zurück, ihr Kollege dagegen mit Tempo 130 war 20 Minuten langsamer. Die effektive Zeitersparnis ist aber abhängig von vielen anderen Faktoren wie Verkehrsaufkommen, Baustellen und anderes.
Argument 6: Wenn manpermanent 130 fährt, lässt die Konzentration nach.
«Die Beanspruchung bei hohen Geschwindigkeiten ist höher. Dies führt in der Regel kurzfristig zu höherer Konzentration, um die Anforderungen angemessen bewältigen zu können», sagt Psychologe Schlag. Das Problem ist: Diese lässt sich nicht konstant aufrechterhalten. «Dies wird dadurch verschärft, dass wir es bei eher monotonen Autobahnfahrten primär mit einer Überwachungsaufgabe zu tun haben – und die fällt Menschen besonders bei längerer Dauer schwer. Die Wachsamkeit als ein wesentlicher Teil der Konzentration sinkt dann.» Dies verschärft sich bei hohem Tempo. Der norwegische Verkehrsforscher Rune Elvik warnt: «Die Unterschiede in der Reaktionszeit sind in keiner Weise ausreichend, um die bei hohen Geschwindigkeiten längere zurückgelegte Strecke auszugleichen. Der Bremsweg wird immer grösser, wenn das Tempo zunimmt, egal wie erfahren der Mensch am Steuer ist.»
Argument 7: Autobahnen sind die sichersten Strassen in Deutschland.
Generell ist die Anzahl von tödlichen Unfällen über die Jahrzehnte stark gesunken – trotz steigendem Verkehrsaufkommen. Die Gründe hierfür reichen von verbesserten Fahrzeugen, niedrigeren Promillegrenzen bis hin zur Durchsetzung von Helm-, Gurt- und Kindersitzpflicht sowie Tempo 100 auf Landstrassen. Letztere sind immer noch Spitzenreiter, wenn es um verunglückte Verkehrsteilnehmer geht. 1795 Menschen starben 2017 auf Landstrassen. Autobahnen hingegen sind die sichersten deutschen Strassen, wenn es um die gefahrenen Kilometer geht: Obwohl dort ein Drittel aller Kraftfahrtkilometer zurückgelegt werden, starben nur 12,9 Prozent der Verkehrstoten auf Autobahnen, 52,5 Prozent hingegen auf Landstrassen Für Verkehrsforscher Schlag keine Überraschung: «Sie haben einen Teil der Probleme, die unfallträchtig sind, dort gar nicht: keine Radfahrer, keine Fussgänger, keinen Kreuzungsverkehr, kaum direkten Gegenverkehr. Insofern wundert es nicht, dass die Autobahnen relativ sichere Strassen sind.»
Allerdings enden die Unfälle dort auch besonders oft tödlich: 409 Menschen starben 2017 auf Autobahnen, 44,3 Prozent (181) von ihnen wegen zu hohen Tempos. In einer Faktensammlung für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat finden sich ausserdem Daten, wie viele davon auf Abschnitte mit und ohne Tempolimit entfallen: Die Anzahl der tödlich Verunglückten lag auf Strecken, die keine Tempobegrenzung haben, zwischen den Jahren 2011 und 2016 deutlich höher als auf denen mit Limit (2016: 283 gegenüber 110).
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