Frieden geht durch den Magen
Der Schweizer Koch David Höner ist ins Amazonasbecken Ecuadors ausgezogen, um die Indios auf den Tourismus vorzubereiten.

Als unsere Flussfähre um 7 Uhr ablegt, liegt der Río Napo in dichtem, graugrünem Nebel. Vom mächtigen Fluss ist lediglich ein dünner Streifen dreckigen Brauns zu sehen. Das undurchdringbare Grün des endlosen Regenwaldes am anderen Ufer lässt sich erst erahnen. Wir sind im Amazonasbecken Ecuadors, dem Oriente, 100 Kilometer südlich des Äquators, wo die Sonne nicht scheint, sondern brennt, und die Luft fast so feucht ist wie der Schweiss, der einem aus allen Poren rinnt.
Auf der anderen Flussseite balanciert David Höner über eine dünne Holzlatte zum Ufer. Er kauft sich zum Frühstück einen Sack gekochte Wachteleier und macht eine Runde über den Markt von Pompeya, zu dem Kichwa aus den benachbarten Dörfern jeden Samstag mit Kanus anfahren. Er vergleicht Preise, prüft die Qualität des Gemüses und schäkert mit den Verkäuferinnen. Man merkt: Er ist vertraut mit den Menschen und Produkten des Landes. Der Schweizer Koch und Weltenbummler lebt seit über 20 Jahren in Ecuador.
Mit Säcken voller Zwiebeln, Tomaten und Bohnen bahnt er sich den Weg zurück auf die Flussfähre. Dort wird er von 18 Kichwa erwartet. Die meisten sind im Teenalter, aber auch Frauen um die 40 sind dabei. Seit einer Woche sind sie Höners Schüler; lernen auf seinem Schiff, wie man Europäer mit Lebensmitteln aus dem Amazonas und etwas Kreativität begeistert, wie man Menüpreise kalkuliert und Amerikaner in ihrer Sprache begrüsst. Die Lernenden sollen einst die Speerspitze des Tourismus im Oriente werden. Heute gilt es erstmals ernst; sie werden für Gäste kochen – keine alltäglichen Gäste, sondern solche, die sich für gewöhnlich ignorieren oder bekriegen.
Friedensschluss bei Ziegeneintopf
Die faszinierende Geschichte der Schweizer Kochfähre auf dem Río Napo nahm ihren Lauf vor zwei Jahren: Höner kaufte in El Coca, der Provinzhauptstadt Orellanas, für 30 000 Dollar El Bus Nautico, eine Transportfähre mit aufgeschweisstem Doppeldeckerbus aus Schottland. Ein Ecuadorianer betrieb darauf jahrelang eine Flussdisco, bis er das Land aus ungeklärten Gründen Hals über Kopf verliess. Höner liess den nautischen Bus zur Kochschule umbauen. Seither zieren das Chassis zwei rote Friedenstauben mit einem Kochlöffel im Schnabel – das Logo von Cuisine sans Frontières (CsF), Höners Hilfswerk. Wie die Médecins sans Frontières reisen er und sein Team in Konfliktgebiete, um zu helfen. Aber nicht mit Skalpell und Antibiotika, sondern mit Sparschäler und Pfeffermühle. «Mit Kochen und Essen kann man Glück produzieren», sagt Höner. «Davon ausgehend lassen sich Brücken bauen, um verfeindete Gruppen wieder in einen Dialog zu bringen.» Zum Beispiel die Pokot und die Turkana in Kenia, die durch die Modernisierung zunehmend in Bedrängnis geraten und sich über Viehdiebstähle mit Kalaschnikows blutige Fehden liefern. CsF eröffnete 2010 mitten im Konfliktgebiet ein Restaurant und lud die Clanchefs zum Ziegeneintopf ein. Ein Friedensdialog war initiiert, auch wenn es vereinzelt zu Rückfällen kam.
«Die Touristen wollen nicht jeden Abend Bohnen mit Reis.»
Die Kochfähre in Ecuador ist das neueste und wahrscheinlich komplexeste CsF-Projekt. Für Aussenstehende sind die Spannungen im Oriente nicht auf Anhieb erkennbar. Sie offenbaren sich im Pumpgeräusch von rostigen Pipelines, in Flammen von abgefackeltem Methan oder in militarisierten, mit Stacheldraht umzäunten Industrieanlagen inmitten des Dschungels. Seit den 70er-Jahren werden im Oriente neue Ölplattformen, Pipelines und Strassen zur Erschliessung der fossilen Brennstoffe gebaut. Illegale Jäger, Holzfäller und Viehzüchter zogen nach. Regenwald wurde zerstört und verschmutzt.
Die Hauptleidtragenden waren stets die Indigenen; die Waorani, Shuar, Siona, Secoya, Cofán und die im 19. Jahrhundert von Kautschukbaronen als Arbeiter verschleppten Kichwa aus der Sierra. Für sie ist der Regenwald Lebensraum, Ernährungsgrundlage, Quelle für Medizin und das Zentrum ihrer Kultur. Mit dem Einfall der Erdölunternehmen verloren sie Land, Jagdgründe und Traditionen. Zum Überleben und getrieben vom Versprechen eines komfortableren Lebens heuerten viele selbst als Petroleros an, als einfache Bauarbeiter, Transporteure oder Guides bei Ölunternehmen. Als der Erdölpreis vor drei Jahren auf ein Rekordtief fiel, verloren Tausende ihre Jobs.
Kein Wissen im Umgang mit Touristen
«Die Kichwa am Río Napo brauchen eine Alternative zum Erdöl», sagt Höner. «Und der kommunale Ökotourismus ist die beste.» Davon sind mittlerweile auch eine Reihe von lokalen Umwelt-NGOs, Indigenenverbände und Entwicklungsagenturen wie die deutsche GIZ überzeugt. Zudem unterstützt die Provinzregierung seit einigen Jahren von den Gemeinden selbstverwaltete Tourismusprojekte. Bisher jedoch mit mässigem Erfolg: «Entlang der 300 Kilometer Fluss zwischen Coca und Nuevo Rocafuerte an der Grenze zu Peru leben um die 70'000 Menschen in 75 Gemeinden», erzählt Höner. «Die Hälfte der Gemeinden betreibt bereits eine Lodge, aber nur ein Fünftel davon funktioniert tatsächlich.»
Meist sind es einfache Bungalows, gezimmert aus Holz und Dächern aus geflochtenen Palmblättern; gebaut mit viel Hingabe und grossen Ambitionen. Doch viele verrotten, weil niemand weiss, wie man solche Dschungelresidenzen in den USA und Europa an den Mann bringt? Und was die Touristen erwarten, die von weit her reisen, um mit etwas Glück Brüll-, Kapuziner- oder Sakeaffen, Anakondas, Kaimane und Tapire aus nächster Nähe zu erleben.
«Entweder werden die Indigenen über den Tourismus Teil der Globalisierung oder sie werden von ihr ausgelöscht.»
Es fehle überall an Wissen im Umgang mit Touristen, sagt Höner. «Ganz besonders, wenn es ums Essen geht; den Schlüssel für ein erfülltes Ferienerlebnis.» Kichwa sind meist genügsam und kochen spartanisch – Bohnen, Reis und gekochten Maniok, oft nur mit etwas Salz gewürzt. Das langweilt den variationsverwöhnten Europäer schon am zweiten Tag. Die Jungen informieren sich deshalb über Internet und Facebook, was man im Westen isst, und versuchen dies zu kopieren. «Meist mit wenig Erfolg», wie Höner weiss.
Am ersten Kurstag versammelte er deshalb seine 18 Schülerinnen und Schüler aus Pompeya und Indillama auf dem überdachten Heck und setzte zur Begrüssungsrede an: «Der Oriente hat grosses touristisches Potenzial. Aber die Touristen kommen nicht, um verkochte Spaghetti mit Ketchup zu essen und lauwarme Cola zu trinken. Sie wollen auch nicht jeden Abend Bohnen mit Reis. Touristen kommen in den Oriente, um eure Kultur und die Vielfalt der hiesigen Produkte kennen zu lernen.»
Die Waorani sind gefürchtete Krieger
Danach schickte er seine Schüler in die Küche. Dort lernen sie, wie man aus Kochbananen Suppen, aus Baumtomaten scharfe Saucen (Aji) und aus Palmherzen Salate zubereitet. Oder dass sich aus Sapote, Chonta, Guanábana, Guave und Limón mandarina süsse, aromatische Säfte pressen lassen.
Der Bus Nautico ist aber mehr als eine Ausbildungsstätte. Er ist auch eine neutrale Plattform, um Brücken zwischen den Menschen im Oriente zu bauen. Deshalb arbeitet er immer mit zwei Gemeinden gleichzeitig zusammen. Und deshalb hat er an diesem Samstag nach der ersten Kurswoche vor dem Markt in Pompeya nicht nur eine Gruppe Kichwa, sondern auch Waorani zum Mittagessen aufs Schiff eingeladen.
Die Waorani-Männer tragen Federschmuck und lange Holzspeere. Sie sind gefürchtete Krieger und ausgezeichnete Jäger und lebten bis vor wenigen Jahrzehnten noch als Nomaden tief im Regenwald. Dann wurden sie – mit wenigen Ausnahmen – von amerikanischen Missionaren und den Petroleros «zivilisiert» und sesshaft gemacht. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Scharmützeln zwischen Waorani und Kichwa. Meist geht es um Land und Jagdreviere; manchmal auch nur um hartnäckige Vorurteile.
Spiel mit den Speeren der Waorani
Nach Ansprachen voller guter Intentionen, traditionellen Tänzen und geteilter Chicha (gekaute und in Spucke vergorene Yucca) wird auf dem überdachten Oberdeck aufgetischt: Reis, Bohnen, Thunfischsalat und gekochte Bananen mit Zuckerrohrsirup zum Dessert. Die Schüler rennen zwischen Küche und Oberdeck, schöpfen Essen und schenken zuvorkommend Guavasaft nach. Höner hält den Überblick und schlüpft selbst in die Gastgeberrolle; setzt sich zu seinen Gästen, klopft Sprüche, bringt sie zum Lachen und bietet Kekse an. Kichwa und Waorani sitzen getrennt, vereinzelt kommt es zu kurzen Gesprächen und Gelächter. Die Kichwa-Jungen sind begeistert von den Speeren der Waorani, mit welchen sie sich gegenseitig übers Deck jagen. Eine Annäherung ist initiiert. Höner verbucht den Tag später als Erfolg, wenn auch nicht ohne Zweifel: Wären die Gruppen auch gekommen, wenn die Bootsfahrt und das Mittagessen nicht von CsF bezahlt worden wären? Haben sie ein echtes Interesse, für einen prosperierenden Tourismus zusammenzuarbeiten?
Denn Höners Traum ist eine ökonomisch und ökologisch nachhaltige Tourismusregion, die von den indigenen Gruppen selbst verwaltet wird. Aktuell knüpft er ein Netzwerk aus Hotels, Ökologdes und Unternehmen, um seinen besten Schülern einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Und in El Coca will er eine Buchungszentrale aufbauen, über welche die Indigenen ihre kommunalen Ökotourismusprojekte am Napo selbstständig verkaufen können. Gekoppelt mit einem Markt für lokale Produkte und angeschlossen an ein Restaurant mit gehobener Amazonasküche.
Das wird zwar ein Stück weit zur «Disneylandisierung» des Amazonas beitragen, gesteht Höner. Aber er sieht keine bessere Alternative: «Entweder werden die Indigenen über den Tourismus Teil der Globalisierung oder sie werden von ihr ausgelöscht.»
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Dieser Artikel wurde unterstützt durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen».
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