Fünftausender im Blick
Ein Kurztrekking in Tadschikistan ist auch für Flachländer machbar. Es kombiniert Einfachheit mit Luxus.

Das zentralasiatische Tadschikistan und die Schweiz haben einiges gemeinsam. Es sind beides Binnenländer, weitgehend gebirgig, mit ähnlicher Bevölkerungszahl. Grösser sind natürlich die Unterschiede: Tadschikistan wird autokratisch regiert, Parolen und Porträts von Emomali Rachmon, Staatspräsident seit 1994, grüssen überall im Land. Es ist arm, das Bruttoinlandprodukt beträgt nur gut ein Hundertstel der Schweiz. Dafür kann das Land, das es eigentlich erst seit dem Untergang der Sowjetunion gibt, auf eine stolze Vergangenheit zurückblicken. Als Alexander der Grosse durch die Gegend kam, standen da schon Städte, die er erobern musste.
Heute geht es Besuchern eher um die Eroberung von Gipfeln, Pässen oder Hochflächen, die es hier in ganz anderen Dimensionen gibt als in der Schweiz. Die Hälfte des Landes liegt auf über 3000 Meter über Meer, im Osten thront das Pamir-Gebirge mit Siebentausendern. So weit reichen weder Ehrgeiz noch Flachländerkondition, wir geben uns mit drei Tagen Trekking im Fan-Gebirge im Westen des Landes zufrieden. Penjikent, eine Provinzstadt kurz hinter der usbekischen Grenze, gilt als das «Pompeji Zentralasiens», aber das ist eine andere Geschichte. Von hier fahren wir das Zarafschan-Tal entlang und biegen dann rechts ein in die Fan-Berge. Ein obligater Stop gilt in Panjrud dem Mausoleum des Nationaldichters Rudaki (858-941), des Begründers der neupersischen Poesie. Bis Artuch wird die Strasse immer schlechter, der Allradantrieb immer wichtiger. Auf 2200 Metern verlassen wir das Auto mitsamt Fahrer und Koffern, er wird uns am Ziel der Wanderung wieder abholen.
Idyllische, dann wieder raue Landschaften
Vorausgegangen ist unsere Crew: vier Esel, zwei Eseltreiber und ein Koch. Ja, unser Trekking verbindet das Schlichte mit dem Luxuriösen. Das merken wir, als wir die erste Übernachtungsstelle erreicht haben. Die liegt auf 2900 Metern, der Weg dahin führt durch mal idyllische, mal raue Landschaften, an einem lieblichen Bach entlang, dann über Geröllfelder und Serpentinen hinauf auf eine Hochebene mit weiten Blicken. Immer vor uns: der gletscherweisse Gipfel Marija, mit 4970 Metern höher als der Montblanc und benannt nach einer russischen Bergsteigerin, die dort abgestürzt ist.
All das erklärt unser Führer Mubin, ein kleiner, drahtiger Tadschike, ausgebildeter Deutschlehrer, der in seinem Dorf einen kleinen Bauernhof betreibt mit Ziegen und Apfelbäumen. Über Handy hält er die Verbindung zum Vater und vergewissert sich, dass die Arbeit nicht vernachlässigt wird. Mubin kennt jeden Strauch, jede Blume am Wegrand und weiss auch, welche Krankheit man mit Blättern oder Früchten behandeln kann. Medikamente sind teuer in Tadschikistan.
Es gibt weder Wegweiser noch Markierungen
Ohne Mubin kämen wir nicht weit; anders als in der Schweiz gibt es keine Wegweiser, keine Markierungen, keine Steinmannli. Und natürlich auch keine Wanderkarten oder -führer. In der Ferne sehen wir Schafherden, ab und zu treffen wir auf einen Hirten; Mubin kennt sie alle.
Schliesslich haben wir es auf eine Hochebene geschafft, zu den Kulikalon-Seen, einer Kette von grösseren und kleineren Wasserflächen, die sich ineinanderergiessen wie in versetzte Brunnenschalen. An einem von ihnen hat unsere Crew auf einer kleinen Halbinsel bereits Zelte aufgeschlagen und serviert heissen Kaffee!
Schurba-Suppe schlürfen und frieren
Vom Nachmittag bis zum Abend erkunden wir die Hochebene, auf der mannshohe Wacholderbäume stehen, die kleine Wälder bilden. Hoch über uns der Alowiddin-Pass, den wir eigentlich morgen überschreiten wollten. Es wird nicht gehen, sagt Mubin: zu viel Schnee dort oben.
Die Sonne ist für uns schon lange untergegangen, da taucht sie immer noch die Gipfel in rosa Licht. Dann wird es schlagartig kalt. Wir ziehen alles an, was wir dabei haben, können das Abendessen kaum würdigen, das wir im Halbdunkel und frierend einnehmen – darunter die obligate Schurba-Suppe, die aus Kartoffeln, Rüebli und einem Stück Fleisch besteht –, giessen einen Schluck Wodka drauf und kriechen in die Schlafsäcke.
Ein Umweg von vier Stunden zusätzlich
Nach einer kalten Nacht reiben wir uns die Hände an einem Feuer warm, das einer der Eseltreiber angezündet hat. Dann geht es an die nächste, die entscheidende Etappe, auf den Lovdan-Pass, Ersatz für den Alowiddin. Der soll schneefrei sein. Für die immer wildere Landschaft haben wir bald keinen Sinn mehr, auch nicht für Blicke zurück auf Hochebene und Seen: Alle Kraft brauchen wir für den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug. Mubin merkt, wie es uns geht, und legt häufigere Pausen ein («nur zum Atemholen»). Ihm selbst machen weder Höhe noch Anstrengung etwas aus. Dabei hält er den Ramadan ein und isst und trinkt den ganzen Tag nichts.
Schliesslich ist es geschafft: Wir sind auf 3700 Metern angekommen, der Atem geht ruhiger, wir schauen um uns, vor uns Fünftausender wie der Chapdara, hinter uns tiefblaue Seen, unter uns eine Schlucht, in die wir absteigen müssen. Und links mühen sich die Esel um einen Felsturm. Das müssen wir auch, denn der direkte Weg ist wieder verschneit. Testgeher Mubin sinkt bis zur Hüfte ein. Dass der Abstieg, den wir schliesslich nehmen, einen Umweg und vier Stunden zusätzlich bedeutet, verschweigt er uns wohlweislich oder gibt es nur in pädagogischen Dosen preis: «Noch etwa, vielleicht, eine Stunde.»
Der Lagerplatz am See ist überwältigend
Tatsächlich bietet der Abstieg noch einiges: eine Gruppe Pferde, ein Rudel böser Hunde, einen schmalen Pfad, der hoch über einem Wildbach verläuft. Diesen müssen wir mehrmals überqueren. Mal liegen Steine da, mal nicht. Dann zieht Mubin die Bergstiefel aus, watet ins Wasser und baut mit grossen Felsbrocken schnell einen Behelfsweg hinüber.

Wir passieren eine Alp, einfachste Steinhütten, und erreichen nach einem letzten Aufstieg unseren zweiten Übernachtungsplatz. Schöner geht es nicht: Die Crew hat die Zelte direkt neben einem kleinen See aufgebaut, in dem sich ein schneebedeckter, matterhornartiger Gipfel spiegelt. Aber das würdigen wir erst am nächsten Morgen, als wir aus den Zelten krabbeln und uns der doppelte Anblick überwältigt.
Lange Balladen von Sehnsucht und Liebesglück
An diesem Abend schleppen wir uns fast zum Essenszelt (es gibt, natürlich, Schurba), aber dann sind wir gestärkt und bereit für den «Nachtisch»: Die Crew hat ein Lagerfeuer gemacht aus trockenem Wacholderholz, das wie Zunder brennt und Funken hoch in die Nacht jagt. Der ältere der Eseltreiber, der mit dem vielen Gold in den Vorderzähnen, beginnt zu singen: lange Balladen von Sehnsucht und Liebesglück (wie uns Mubin zusammenfasst). Wir revanchieren uns mit «Der Mond ist aufgegangen» und dem Kanon «Froh zu sein, bedarf es wenig.» Für uns bedarf es dann bloss des Schlafsacks und der Gewissheit, dass diese Nacht nicht ganz so kalt sein wird. Und dass uns das Auto am nächsten Morgen nicht weit entfernt erwartet.
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