Nachruf auf Jürgen FlimmFür den grossen Theatermann solls rote Rosen regnen
Er prägte die Bühnenwelt, trat aus Spass im «Tatort» auf und war auch in der Schweiz tätig. Der deutsche Regisseur und Intendant Jürgen Flimm ist im Alter von 81 Jahren gestorben.

Wenn seiner Privatmythologie zu glauben ist, dann hat Jürgen Flimm immer unter der Konkurrenz mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Dieter gelitten. Der spielte Schlagzeug, und deshalb himmelten ihn die Mädchen an und nicht ihn, den kleinen Bruder. Sie studierten beide in Köln, wo es zu Anfang der Sechziger eine Gruppe mit dem ziemlich gutgemeinten Namen «Bühne für sinnliche Wahrnehmung» gab, in der sich kommende Genies wie Heinrich Breloer, Wulf Segebrecht und Hans Neuenfels ausprobieren konnten. Dieter Flimm spielte natürlich Schlagzeug, für seinen Bruder blieb nur die beifalllose Pantomime übrig, ansonsten entstanden dort eher traurige Verse, selbstverständlich in majestätischer Kleinschreibung: «wer immer frieden sucht sei bei / uns der / ist auf einmal auf der flucht / sprachgestell».
Mit dieser celanesken Verstiegenheit hatte der Theatermacher Jürgen Flimm aber seine esoterische Phase auch schon wieder hinter sich und begann seinen Aufstieg zum erfolgreichsten Theatermacher der letzten fünfzig Jahre. Die erste Station war, heute kaum mehr vorstellbar, das kulturrevolutionäre München, waren die Kammerspiele unter dem gut katholischen August Everding. Flimm assistierte bei Hans Schweikert und Fritz Kortner. Der schwule Martin Sperr übersetzte Edward Bonds Stück «Gerettet», in dem Teenager ein Baby steinigen, Peter Stein liess bei den Zuschauern Geld für den Vietcong sammeln, und Flimm schmuggelte immerhin den Marxisten Herbert Marcuse ins Programmheft.
Wie bei Thomas Bernhard beschrieben, ging es danach erst einmal in die Provinz. Die erste eigene Regie konnte Flimm in Wuppertal auf die Bühne bringen, Kleists «Zerbrochenen Krug». 1972 wurde er Spielleiter am Nationaltheater Mannheim, im Jahr darauf Oberspielleiter am Thalia-Theater in Hamburg. Im Nebenerwerb brachte er in Zürich am Neumarkttheater in Schweizer Erstaufführung Marieluise Fleissers «Fegefeuer in Ingolstadt» heraus und die Abonnenten des Münchner Residenztheaters erfreute er mit Thomas Bernhards Beckett Überbietungsgroteske «Ein Fest für Boris».
Als Theaterchef lag ihm daran, die Bude vollzubekommen.
Gegen die immer feinsinnigeren Inszenierungen der Schaubühne unter Peter Stein bot Flimm handwerklicheres Theater und vergass dabei auch nicht die Wirkungsmöglichkeiten, die politisiertes Theater bot. 1982, als Helmut Schmidt in der Nachrüstungsdebatte zu Fall kam, brachte Flimm am Schauspielhaus Zürich eine perückenbefreite «Minna von Barnhelm» heraus, machte aus der Komödie Ernst und aus dem Siebenjährigen Krieg Lessings den drohenden Dritten Weltkrieg: «Unser Stück spielt nach dem letzten grossen Krieg und vor dem nächsten allerletzten.» 1983 wurde die Inszenierung ans Berliner Theatertreffen geladen.
Der Regisseur Flimm wollte selbstverständlich die Aufregung, die sofort um seine aktualisierende Interpretation entstand, aber als Theaterchef lag ihm noch mehr daran, die Bude vollzubekommen. Von 1979 an leitete Flimm sechs Jahre das Schauspiel Köln, anschliessend wurde er für fünfzehn lange Jahre Intendant am Thalia in Hamburg.
1978 hatte er in Frankfurt seine erste Oper inszeniert, Luigi Nonos klassenkämpferisches Pamphlet «Al gran sole carico d'amore» (Unter der grossen Sonne von Liebe beladen) und damit bewiesen, dass ihm das Musiktheater keine Mühe machte. Später brachte er an der Met in New York «Fidelio» heraus und liess sich sogar nach Bayreuth einladen. Er wusste, worauf er sich mit Bayreuth einliess – «halb so gross wie der Friedhof von Chicago und doppelt so tot»: die Familie Wagner, die Wagner-Jünger und -Jüngerinnen, die neidische Konkurrenz, aber selbst der anstrengende «Ring der Nibelungen» überforderte ihn nicht. Er beherrschte das Repertoire, brachte Mozart und Offenbach, Schubert und Monteverdi. Auch eine «Fledermaus» war dabei, für die sein Bruder das Bühnenbild schuf.
Auch für den «Tatort» war er sich nicht zu schade
Da sich das Volkstheater in Deutschland mit Willy Millowitsch, der Iberlbühne und dem Ohnsorg-Theater zufriedengibt, musste es sich ins Fernsehen flüchten. Flimm war dabei und inszenierte zwei Folgen der WDR-Serie «Ein Herz und eine Seele». Wenn Not am Mann war oder weil es ihm einfach Spass machte, trat er auch mehrmals im «Tatort» auf und spielte in Thomas Braschs Film «Engel aus Eisen» einen Kommissar.
Flimms Programm war nicht unbedingt massentauglich, aber das ist Theater ohnehin nicht. Er vergass dabei nicht, dass die edle Schauspielkunst vom Steuerzahler subventioniert wird, also überwiegend von den Bürgern, die nicht ins Theater gehen. Wie wenige im Gewerbe verstand er etwas vom Geschäft und wusste deshalb, «wenn mir etwas wirklich gelungen ist, gehen die Leute auch rein».
Sein grösster Erfolg war zweifellos «Black Rider». Das Musical, das auf Webers «Freischütz» zurückgehen sollte, aber von William S. Burroughs und Tom Waits zu einer phonstarken schwarzen Messe umgedichtet wurde, erlebte 1990 seine Uraufführung am Hamburger Thalia unter dem Somnambulisten Robert Wilson. Der Theaterkritiker Werner Burkhardt lästerte zwar über diese «‹Cats-Version für Intellektuelle und Snobs», aber nicht nur das Premierenpublikum jubelte. Das Satanical wurde ein Welterfolg. Flimm, der sonst zu buchhalterischer Strenge neigte, hatte gegen die Kassenwarte im eigenen Haus gezockt und gewonnen. Niemand ausser ihm hatte mit diesem Erfolg gerechnet.
«Wer beim Inszenieren keine Angst davor hat, dass es nicht gelingt, kann es gleich sein lassen.»
In einem Interview mit der Süddeutschen hat er einmal seinen theatralischen Imperativ verkündet: «Wer keine Versagensangst hat, ist dumm. Der bringt es zu nichts. Wer beim Inszenieren keine Angst davor hat, dass es nicht gelingt, kann es gleich sein lassen.»
Dass er je Angst gehabt hätte, ist bei seinem beinah weltumspannenden Eifer kaum vorstellbar. Viel wirbeliger als der Regisseur Flimm ging fast nicht: Richard Strauss in New York, in Bayreuth den «Ring» und in Zürich Händel, da kam auch Peter Stein nicht mehr mit, der sich auf seine älteren Tage ebenfalls auf die Oper verlegt hatte. Der gefragte Regisseur leitete nacheinander die Ruhrtriennale, die Salzburger Festspiele, die nun für ihn Trauerbeflaggung zeigten, und die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Ohne beste Beziehungen in alle Richtungen geht das nicht. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz würdigte ihn als prägenden Vielseitigkeitsvirtuosen.
Vor zwölf Jahren, bei der Beerdigung des Schauspielers Dietmar Mues, der in Hamburg zusammen mit seiner Frau von einem Epileptiker totgefahren worden war, raunzte Flimm über die Blumen, die den Toten jetzt auch nichts mehr helfen würden, aber er war sichtlich ergriffen. Dem Mimen, behauptet der deutsche Nationaldichter Friedrich Schiller, flicht die Nachwelt keine Kränze, den Regisseur ehrt sie erst recht nicht. Am Samstag ist der leidenschaftliche Theaterwerker Jürgen Flimm 81-jährig gestorben. Wenigstens für ihn solls rote Rosen regnen.
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