Papablog: Hartnäckige SprachfehlerFür immer Stottern? Ist ok!
Mit einem Sprachfehler in der Öffentlichkeit zu sprechen, scheint undenkbar. Joe Biden und unser Autor beweisen das Gegenteil.

«Liebe Mutter, ich stecke im Hurenkasten.» Ich wollte diesen Satz so nicht sagen. Ich wusste, dass ich diesen Satz so sagen würde. Es war unausweichlich.
Ich bin ein kleiner Junge im Deutschunterricht und ich habe gerade für alle vernehmlich beim Vorlesen einiger Sätze aus «Der Wolf und die sieben Geisslein» das Wort «Hurenkasten» ausgesprochen. Ein paar Kinder fangen an zu lachen, ein paar wiederholen ungläubig-amüsiert mein Versagen, jemand ruft laut «Oaaah!». Meine Deutschlehrerin blickt mich mitleidig an und bringt die Klasse mit einem kurzen «Scht!» zum Schweigen.
Ich mag meine Deutschlehrerin. Sie ist streng aber fair, klug und sie liebt Geschichten. Ausserdem heisst sie Frau Huste. Sie hat das H schon an der richtigen Stelle. Was ich nicht mag ist, dass ich in ihrem Unterricht wie alle anderen vorlesen muss, dabei Todesängste ausstehe und mich regelmässig bis auf die Knochen blamiere. Denn in meiner Welt ist ein H an der falschen Stelle eigentlich schon ein Fortschritt. Ein Anzeichen dafür, dass ich versuche, irgendwie mit meinem Problem zurecht zu kommen. Mit meiner Sprachstörung. Mit meinem Stottern.
U-u-u-u-u-uhrenkasten
Meine absoluten Angstgegner beim Sprechen sind Vokale am Wort- oder Silbenanfang. Knacklaute also. Um einen Knacklaut zu produzieren, müssen Sie für den Bruchteil einer Sekunde ihre Luftröhre verschliessen und den Vokal anschliessend freilassen. Meine Anfangsvokale sitzen hinter Gitterstäben. Wenn ich sie aussprechen will, rennen sie mit aller Macht gegen die Gitterstäbe, wieder und wieder, bis sie sich irgendwann zufällig so gedreht haben, dass sie sich verletzt und verbeult durchquetschen können: «U-u-u-u-u-uhrenkasten.» Ich weiss, wenn ich völlig entspannt und zuversichtlich wäre, würden sie sich beim ersten Versuch wie von selbst in die richtige Position drehen und einfach durchschlüpfen. Aber ich bin nie entspannt.
Ich bin ein kleiner Junge, der so schwer stottert, dass er in seinen schlimmsten Momenten mit hochrotem Kopf und schmerzenden Rippen für niemanden verständlich ist. Ich sehe die Gitterstäbe. Deshalb das H. Das H fettet die Vokale ein, dann flutschen sie besser. Ein Trick, den ich mir vom Singen abgeschaut habe. Meine Mutter hat mich auf den Rat einer Logopädin hin bei einem Kinderchor angemeldet, weil beim Singen alles im Fluss ist. Auf Melodien fliessen Wörter wie an einer Seidenschnur aus mir heraus. Deswegen singe ich manchmal, was ich sagen will, auch wenn ich dafür angestarrt werde. Oder ich nehme das fettende H zu Hilfe und hauche die Knacklaute an: «Harbeit. Hofen. Verhirren.» Wenn ich einen guten Tag habe, sind meine Sprachstützräder fast unsichtbar. Wenn ich einen normalen Tag habe, sind sie ein überdeutlicher Hurenkasten. Wenn ich schlechte Tage habe, liegt meine gesamte Sprache, liege ich in Trümmern.
In Liebe sprechen
Ich bin ein Jugendlicher und ich stottere immer noch schwer. Es ist mir entsetzlich peinlich. Ich hasse es zu wissen, dass ich stottern werde, ich hasse es, mir beim Stottern zuhören zu müssen und vor allem hasse ich den Kontrollverlust. Ich habe ein paar mehr Tricks auf Lager als früher. Einen glatten Stein unter der Zunge zum Beispiel, der meinen Verstand einigermassen von den Gitterstäben ablenken kann, so dass die Knacklaute unbeobachtet und unbeschämt einfach machen, was sie sollen.
Manchmal funktioniert es. Meistens ist es furchtbar. Aber ich bin verliebt. Und ich darf der Lebenskomplizin vorlesen. Sie bittet mich sogar darum. Stundenlang, Seite um Seite hört sie mir einfach zu. Ohne mich zu unterbrechen, ohne sich zu räuspern, ohne auch nur die Augenbraue zu heben. Wort für Wort setzt sie mit ihrer liebevollen, aufmerksamen Geduld meine völlig zerbrochene Sprache wieder zusammen. Jeder Satz kann sein wie er ist. Jede Geschichte darf durch sie eine Fortsetzung haben.
Ich bin ein erwachsener Mann und sie hört mir immer noch zu. So lange schon, dass die meisten der Gitterstäbe mittlerweile durch ihre Liebe erodiert und herausgebrochen sind. Ich spreche frei. Ich rede beruflich vor Menschen, manchmal stundenlang. Gelegentlich werden die Bruchstellen dabei hörbar und setzen «Hausrufezeichen», wo keine hingehören. Ab und an verweilt mein Sprachrhythmus befremdlich lang auf Silben, schleift und kratzt. Es wird mich nie ganz verlassen. Doch meine Stimme ist frei. Im Fernsehen redet Joe Biden über ein besseres, freieres Amerika und ich kann seine Bruchstellen hören. Sein verletztes Sprechen, sein zähes Ringen, sein jahrzehntelanges Stottern. Es sind gute Tage für ihn und für mich. Ich weiss, ich werde immer stottern. Aber ich stottere in Liebe.
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