
Schon 1990 war ein Jahr der Zeitenwende. Und zwar gleich einer doppelten. Positiv war der Beginn der raschen Implosion des Sowjetimperiums; negativ dagegen der Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen, welche zum Zerfall von Jugoslawien führten. Den zwei Ereignissen war gemeinsam, dass die schweizerische Aussenpolitik rasch reagieren musste, nicht Dogmen, sondern den wirklichen Interessen des Landes folgend und gleichzeitig den Werten des Rechtsstaates Schweiz entsprechend.
Die Erkenntnis, dass sich die Karte Europas im Zeitraffer grundlegend veränderte, war damals auch in der Schweiz akut. Das galt wohl für eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern, was sich auch auf die Regierung auswirkte. Es ging eine Spaltung quer durch alle Parteien. Auf der einen Seite die Veränderer, welche entsprechend der Wandlung von Europa regieren und nicht nur reagieren wollten, auf der anderen die in neutralitätspolitischer Vorsicht festgefahrenen Bewahrer.
Die Schweiz in einer Spitzenposition
Die Neuordnung der diplomatischen Beziehungen und die tatkräftige Hilfe dazu – mit einem sehr rasch geschnürten ersten Osthilfepaket – zu den neu wirklich unabhängigen Staaten Osteuropas nahm die Schweiz mitten im Pulk der westeuropäischen Staaten wahr.
Bei der diplomatischen Anerkennung der ehemaligen Sowjetrepubliken in der Folge der Auflösung der UdSSR auf den 1. Januar 1992 nahm die Schweiz mit Beschluss des Bundesrates vom 23. Dezember 1991 eine Spitzenposition ein. Dies, um der geänderten Weltlage, dem Wunsch der neuen Staaten sowie unserem Interesse an Zentralasien für den schweizerischen Sitz im Internationalen Währungsfonds IMF gerecht zu werden. Eine vernünftige, auch interessengeleitete Aussenpolitik eben.
Auf derselben Linie ist der damalige Mehrheitsbeschluss im Bundesrat zur Einreichung eines Beitrittsgesuches zur damaligen EG, heute EU zu verstehen.
Der Bundesrat und seine «übervorsichtige Neutralitätspolitik»
Angesichts der zahlreichen damaligen Gastarbeiter aus allen Teilen von Ex-Jugoslawien konnte – und kann übrigens heute noch – die Schweiz durchaus als «Frontstaat» bei der gewaltsamen Zerschlagung des Vielvölkerstaates Jugoslawien bezeichnet werden. Die offizielle Schweiz reagierte damals rasch mit der diplomatischen Anerkennung der neu unabhängig gewordenen Teilstaaten, welche angesichts der mehrheitlich serbischen, später auch kroatischen Aggressionen dringend auf internationale Unterstützung angewiesen waren.
Und heute? Nach verheissungsvollem Beginn – der vollen Übernahme aller EU-Sanktionen gegen Russland angesichts der putinschen Aggression in der Ukraine – ist die Verwaltung und an deren Spitze der Bundesrat wieder in einen längst vergangen gemeinten Trott von konservativer und übervorsichtiger Neutralitätspolitik zurückgefallen: keine, auch nicht indirekte Waffenlieferungen, keine Verwendung eingefrorener Guthaben von sanktionsbelegten Russen, keine massive schweizerische Finanzhilfe, etwa via den IMF. Dies alles trotz von Experten ausdrücklich bejahter Machbarkeit, wenn nur der Mut da wäre.
Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter und Experte für Geopolitik
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Gastbeitrag zur Aussenpolitik – Für mehr Mut in Zeitenwenden
Die doppelte Zeitenwende von 1990 hat die offizielle Schweiz besser gemeistert als den gegenwärtigen Umbruch im Zeichen des Ukraine-Kriegs.