Gebt die Raubkunst zurück!
Emmanuel Macron will mit kolonialen Traditionen brechen. Ein von ihm bestellter Bericht empfiehlt, alle afrikanischen Kunstwerke den Herkunftsländern zurückzugeben.

Manchmal gibt es für komplexe Probleme ganz einfache Lösungen. Manchmal ist die vermeintlich radikalste Entscheidung die einzig vernünftige. Und manchmal verschiebt ein Werk die kulturelle Tektonik, wo anderen nur Millimeterbewegungen gelungen sind. So ein Fall ist der Bericht, den die in Berlin und Paris lehrende Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der senegalesische Ökonom und Essayist Felwine Sarr, beide 46, gestern dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron übergeben haben. Der Titel ist nüchtern: «Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes» – der Untertitel vage: «Für eine neue Ethik der Beziehungen». Doch der an Gründlichkeit und intellektueller Raffinesse überreiche Text wird die Debatte um Raubkunst aus den ehemaligen europäischen Kolonien auf ein neues Niveau heben.
Anfang 2017 hatte Macron für Aufsehen gesorgt, als er sich klarer als alle seine Vorgänger zum Kolonialismus äusserte: «Der Kolonialismus ist Teil der Geschichte», sagte er. «Er ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.» Am 28. November versprach er vor Studenten in Ouagadougou, Burkina Faso, dass «innerhalb von fünf Jahren die Bedingungen hergestellt sind für endgültige oder vorübergehende Restitutionen des afrikanischen Kulturguts aus französischen Museen an Afrika». «Das afrikanische Kulturerbe», legte er nach, «darf nicht länger Gefangener europäischer Museen sein.» 90 bis 95 Prozent des Kulturerbes von Subsahara-Afrika liegt in westlichen Museen. Allein Frankreich besitzt über 90'000 Stücke. Im März beauftragte er Savoy und Sarr damit, die Möglichkeiten und Kriterien für Rückgaben auszuloten.
Sie waren in Benin, Senegal, Mali und Kamerun, veranstalteten Workshops in Dakar und Paris, sprachen mit Museumsleuten, Wissenschaftlern, Juristen und Politikern aus den ehemaligen französischen Kolonialländern und Frankreich. Nun erläutern sie auf 240 Seiten in unmissverständlichen Worten, was zu tun ist: Sofort und ohne weitere Erforschung der Provenienzen sollen alle Objekte zurückgegeben werden, die im Zuge militärischer Aktionen erbeutet wurden – alle Objekte aus dem Besitz französischer Kolonialbediensteter oder ihrer Angehörigen, alle Objekte aus wissenschaftlichen Expeditionen vor 1960, als Frankreich sich endgültig aus Afrika zurückzog, und alle, die von afrikanischen an französische Museen verliehen, aber nie zurückgegeben wurden. Einer zweiten Gruppe rechnen sie Objekte zu, die nach 1960 in die Sammlungen der Museen aufgenommen wurden, aber Afrika wohl früher verlassen haben. Lässt sich nicht belegen, dass sie auf legitime Weise in französischen Besitz kamen, sollen auch diese zurückgegeben werden. Die Beweislast wird also umgekehrt.
Keine nur vorläufige Rückgabe
Nur eine dritte Gruppe von Objekten bleibt in Frankreich: die, deren legitimer Erwerb dokumentiert ist oder die Geschenke afrikanischer Staatsgäste sind, sofern diese – der Bericht ist reich an süffisanten Details – nicht später wegen des Missbrauchs öffentlicher Mittel verurteilt wurden. Die Hintertür, die Macron offenliess, als er ausser von endgültigen auch von «temporären Restitutionen» sprach und von der «Zirkulation» kultureller Güter, verriegeln Savoy und Sarr umgehend. Der Begriff «temporäre Restitution» sei ein «Oxymoron», stellen die Experten fest, ein Widerspruch in sich.
Und spreche man in Europa von «Zirkulation», dann vor allem, um zu vermeiden, die Eigentümerschaft an den Objekten an die afrikanischen Staaten zu übergeben. Gerade diese trage aber die grösste symbolische Bedeutung. Um was für eine «Zirkulation» könne es sich im Übrigen handeln, wenn eine Seite so gut wie nichts besitze, die andere aber fast alles. Um nie wieder vom Begriff «vorübergehende Restitution» als Euphemismus für «Leihgabe» zu hören, deuten sie ihn neu: Er bezeichne eine «vorläufige Lösung, bis juristische Instrumente gefunden seien, die die endgültige, bedingungslose Rückkehr der Objekte auf den afrikanischen Kontinent erlauben».
Nur das geht zurück, was Afrikas Staaten zurückverlangen – vorläufig nur einige Dutzend Werke.
Keine Debatte um Restitutionen kommt ohne die immer gleichen Einwände aus. Im Gespräch mit dieser Zeitung bekennt Savoy, sie habe früher ähnlich gedacht: «Ich kannte die afrikanische Museumslandschaft nicht und hatte die üblichen Vorurteile: Es gibt kaum Museen, es fehlt geschultes Personal. Ich dachte tatsächlich, in Afrika spiele das historische, materielle Kulturerbe keine besondere Rolle – das immaterielle Erbe, die Musik etwa, sei wichtiger. Heute weiss ich, wie unerträglich ungebildet diese Vorurteile sind. Sie wurden in Afrika alle widerlegt. Ich habe mich geschämt dafür.»
Doch auch das andere polemische Argument gegen Restitutionen suchen Savoy und Sarr zu entkräften. Nein, Besucher der französischen Museen werden demnächst nicht vor leeren Vitrinen stehen. Nur das geht zurück, was die afrikanischen Staaten auch zurückverlangen – und das seien vorläufig nur einige Dutzend für die Geschichte der Länder bedeutende Werke.
Kopien statt Originale in Europa
Allerdings sind unter diesen Werken so herausragende Stücke wie einige der berühmten Benin-Bronzen, die 1897 bei einer britischen Vergeltungsaktion aus Benin City im heutigen Nigeria geraubt wurden. Und wenn die afrikanischen Staaten mit den ersten feierlichen Rückgaben auch Inventarlisten und Archivmaterial der Museen erhalten, wenn sie erstmals erfahren, was die Franzosen fortgeschleppt haben und wenn in Afrika und zwischen beiden Kontinenten die Debatten beginnen, die sich Savoy und Sarr erhoffen, dann werden weitere Restitutionsforderungen folgen. Sie rechnen in Afrika mit einem neuen Interesse an der eigenen Geschichte und Kultur, ohne die eine Gesellschaft verloren sei. Und sie erwarten, dass die Afrikaner neue Museen bauen und dann weitere Objekte entgegennehmen werden. Wäre es dann wirklich so schlimm, so Savoy und Sarr, wenn in Europa Kopien an die Stelle der restituierten Originale treten oder 3-D-Projektionen? In Afrika musste man sich damit schliesslich auch behelfen.
Ob und wie weit der innenpolitisch geschwächte Macron den Empfehlungen folgt, lässt sich nicht abschätzen. Ebenso wenig, wie gross der Widerstand der Museen sein wird. Und selbst wenn sich die Bremser durchsetzen: Die Fesseln und Vorbehalte, die die Debatte jahrzehntelang hemmten, sind gesprengt, der Raum ist geöffnet. Es gibt seit gestern kein Zurück mehr. Das betrifft nicht nur Frankreich, sondern auch viele andere Länder Europas. Belgien etwa, wo in zwei Wochen das Afrika-Museum in Tervuren bei Brüssel neu eröffnet wird.
Doch so bemerkenswert die Debatte ist, so wenig produktiv war sie bisher, denn sie folgte einer stillschweigenden Rollenverteilung. Danach kommt der Politik die Aufgabe zu, moralische Appelle auszusprechen, während man die praktischen Schritte den Museen überlässt, die wenig Interesse daran haben, eigenen «Besitz» abzugeben und ansonsten – vergeblich – auf Vorgaben höherer Instanzen warten. Diese Kombination aus milder Zerknirschtheit und Business as usual lässt sich nun kaum noch fortführen.
Kunstraub gibt es seit der Antike
Savoy und Sarr passen ihre Empfehlungen nach allen Regeln der Kunst in eine Argumentationslinie ein, die von der Antike bis in die Zukunft reicht. «Doppelt ausgelöschte Erinnerung» ist die Diagnose, die sie bei Afrikanern wie Europäern stellen. Während die einen oft nicht ahnen, was ihnen genommen wurde, haben die anderen vergessen, wie all die exotischen Dinge eigentlich in ihre Museen gelangten. Und um diese Amnesie zu kurieren, öffnen sie nun den «Bauch der kolonialen Maschine».
Der Kunstraub gehört seit der Antike fest zum militärischen Repertoire. Einerseits profitierten die Sieger intellektuell und ökonomisch von den Schätzen des unterlegenen Gegners, andererseits erniedrigten sie ihn, entfremdeten ihn seiner kulturellen Herkunft, brachten ihn psychologisch aus dem Gleichgewicht. Kunstraub, so Savoy und Sarr, sei ein Akt der Dehumanisierung wie Vergewaltigung oder Geiselnahme. In Europa verzichtete man nach Napoleons Raubzügen vorübergehend darauf. Umso unbekümmerter und in nie zuvor gekanntem Ausmass beraubte man die Schwarzen in den Kolonien.
Man übertrage den Afrikanern mit den Objekten auch die Aufgabe, sie für die Menschheit aufzubewahren.
Die Europäer daran zu erinnern, wie viel «Blut an den Objekten klebt», wie Savoy es formuliert hat, ist das eine. Das andere ist, ihnen klarzumachen, dass die Empörung über den Raub wie auch die Forderung nach grosszügigen Restitutionen keineswegs neu und unerhört sind. Ihre Geschichte ist fast so alt wie der Kunstraub selbst. So unterschiedliche Figuren wie die Schriftsteller Victor Hugo und Michel Leiris, der Dichter Niyi Osundare und der Regisseur Chris Marker machten das immer wieder zum Thema.
Doch ihre Argumente für weitreichende Restitutionen entnehmen Savoy und Sarr nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft. Vor allem der Zukunft Afrikas, wo die Objekte «re-semantisiert, resozialisiert» werden sollen. Die Objekte zurückzugeben, heisse nicht, sie «von einem physisch und semantisch geschlossenen Ort an einen anderen zu verschieben, nur diesmal beim rechtmässigen Besitzer». Man übertrage den Afrikanern mit den Objekten auch die Aufgabe, sie für die Menschheit aufzubewahren und für die menschliche Kreativität nutzbar zu machen. Sie kehrten nicht einfach zurück, sondern stellten künftig eine Beziehung her zwischen beiden Kontinenten. Die afrikanische Kunst, die schon Gauguin und Picasso und alle anderen verändert hat, die sie gesehen haben, kehrt mit ihrer europäischen Geschichte nach Afrika zurück. Savoy und Sarr sind überzeugt: Niemand verliert dabei, sondern alle gewinnen.
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