
Der Berner SVP-Regierungsrat und Integrationsdirektor Pierre Alain Schnegg äusserte sich in einem Radiointerview wie folgt: «Es ist ein Fiasko für unsere Integrationspolitik, wenn man schaut, wie viele Menschen auch nach fünf oder sieben Jahren in der Schweiz noch immer nicht arbeiten. Wer gesund ist und nach so langer Zeit – trotz Vollbeschäftigung – noch immer keine Arbeitsstelle hat, der will doch einfach nicht arbeiten.»
Für das Jahr 2021 gibt das Bundesamt für Statistik (BFS) die Sozialhilfequote im Flüchtlingsbereich mit 82,1 Prozent an – die Zahl schwankte in den vergangenen fünf Jahren zwischen 80 und 90 Prozent. Sind Geflüchtete weniger fleissig als die einheimische Bevölkerung – oder gar faul, wie es der Berner Integrationsdirektor suggeriert?
Die Quote ist wohl eine der unsinnigsten Zahlen, die das BFS erhebt.
Wer in einem Erhebungsjahr mindestens einmal Sozialhilfe beansprucht, findet Eingang in die Sozialhilfestatistik. Im Jahr 2022 kamen ungefähr 100’000 Flüchtlinge in die Schweiz, davon 75’000 aus der Ukraine. Fast ausnahmslos alle von ihnen werden in der Sozialhilfestatistik geführt, auch wenn sie sich bereits Wochen nach der Ankunft im ersten Arbeitsmarkt betätigen. Die Frage, ob diese Quote dereinst einmal tief sein könnte, ist deshalb obsolet. Sie ist zwangsläufig hoch und ist wohl eine der unsinnigsten Zahlen, die das BFS erhebt.
Es gehört zur unausweichlichen Normalität der in die Schweiz Geflüchteten, hier im ersten und in der Regel auch in den folgenden Jahren sozialhilfebeziehend zu sein. Denn wer in die Schweiz geflüchtet ist, hat noch nicht die nötigen Sprachkenntnisse, um sich rasch im Arbeitsmarkt zu etablieren.
Während der Flüchtlingskrise ab 2015 mussten viele lange Zeit auf ihren Asylentscheid warten. Diese zermürbende Situation hat Integrationsschritte gehemmt. Rasch gute Deutschkenntnisse zu erwerben, gelingt nicht jedem gleich gut. Eine weitere Herausforderung sind anspruchsvolle und zeitintensive Ausbildungen. Danach müssen Betriebe gefunden werden, die mit wenig Planungssicherheit bereit sind, die vielen vorläufig aufgenommenen Personen zu beschäftigen, obwohl de facto die grosse Mehrheit in der Schweiz bleibt.
In Geflüchteten pauschal faule Menschen zu sehen, gehört zu den Ansichten aus dem Giftschrank populistischer Parteien.
Mit diesen Hürden ist der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt für die Geflüchteten kein Sonntagsspaziergang, sondern ein Prozess, der selbstredend einige Jahre in Anspruch nimmt. Interessant ist, dass von den Sozialhilfebeziehenden ungefähr ein Drittel arbeitet. Darunter sind viele Personen mit Familien, die den Schritt in die vollständige Unabhängigkeit von der Sozialhilfe noch nicht geschafft haben. Obwohl sie bei Untätigkeit etwa gleich viel Geld zur Verfügung hätten, wollen sie etwas Sinnvolles tun, weil es zu ihrer Würde gehört. Diese Gruppe sind Teilsozialhilfebeziehende. Ein weiteres Drittel der Sozialhilfebeziehenden sind notabene Kinder. Das letzte Drittel sind vollständig sozialhilfebeziehende Erwachsene.
Die Sozialhilfequote bei Geflüchteten ist in dieser Form eine nutzlose Zahl ohne Aussagekraft. In Geflüchteten pauschal faule Menschen zu sehen, gehört zu den Ansichten, die aus dem Giftschrank populistischer Parteien stammen. Nehmen wir – stellvertretend für die Situation in der Schweiz – als Beispiel das Dorf Riggisberg. Sieben Jahre nach Schliessung des Asylzentrums haben von 22 Geflüchteten aus Ostafrika, die im Dorf verblieben sind, 8 die Sozialhilfeunabhängigkeit erlangt, 4 arbeiten im ersten Arbeitsmarkt und beziehen ergänzend Sozialhilfe, 5 Jugendliche stehen in einer Ausbildung und 5 sind im Kindesalter. Arbeitslos in dieser Gruppe ist niemand, ausser die Kinder.
Daniel Winkler ist Pfarrer in Riggisberg und intensiv in der Flüchtlingsarbeit engagiert.
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Gastkommentar zu Asylsozialhilfe – Geflüchtete und Sozialhilfe: Können Zahlen lügen?
Alljährlich veröffentlicht das Bundesamt für Statistik die Asylsozialhilfequote. Rechtskonservativen Parteien bestätigt diese Zahl jedes Vorurteil, das sie gegenüber Geflüchteten bewirtschaften.