Klage gegen den BundesratWegen Versammlungsverbot vor den Europäischen Gerichtshof
Die vom Bundesrat erlassene Corona-Verordnung verletze die Europäische Menschenrechtskonvention, monieren Gewerkschaften. Nun haben sie in Strassburg eine Klage eingereicht.

Das vom Bundesrat angeordnete, generelle Demonstrationsverbot bei einer Strafandrohung von drei Jahren Freiheitsentzug sei ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Dieser Ansicht ist der Dachverband der Genfer Gewerkschaften Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS). Der Dachverband und der Genfer Anwalt Olivier Peter haben darum am Dienstag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg eine Klage eingereicht.
Die Klage richtet sich gegen den Bundesrat und die von ihm am 13. März erlassene Corona-Verordnung. In der Klage heisst es, seit dem 13. März hätten die Behörden keine Bewilligung zur Organisation einer Kundgebung mehr erteilt, selbst wenn an den Anlässen alle Gesundheitsempfehlungen, wie das Social Distancing und das Tragen einer Gesichtsmaske, befolgt worden wären. Stattdessen habe die Polizei alle Personen, die dennoch demonstrierten, entweder eingeschüchtert oder gebüsst.
750 Franken Busse für Aktivisten
Wie in anderen grossen Schweizer Städten haben auch in Genf in den letzten Tagen Kundgebungen stattgefunden. Eine grosse Gruppe Velofahrer fuhr durch die Stadt, um für den Klimaschutz zu werben. Die Behörden teilten zunächst mit, man versuche alle Velofahrer zu identifizieren und zu büssen. Sicherheitsdirektor Mauro Poggia präzisierte diese Woche, nur die Organisatoren würden gebüsst.
Aktiv war in Genf auch die sogenannte Vierquadratmeterbewegung. Deren Mitglieder versammelten sich auf öffentlichen Plätzen, malten mit Kreide ein vier Quadratmeter grosses Viereck auf den Boden und setzten sich in das Feld, um gegen das Versammlungsverbot zu demonstrieren. Obwohl sie das Distanzgebot des Bundesrats respektierten, büsste sie die Genfer Polizei mit je 750 Franken.
Diese Praxis sei widerrechtlich, monieren die Gewerkschaften in ihrer Klage. Anders als andere Staaten, die dem Europarat angehören, habe die Schweiz nicht von ihrem Recht Gebrauch gemacht, von der Europäischen Menschenrechtskonvention abzuweichen. Länder wie Albanien, Armenien, Estland, Georgien, Lettland, Nordmazedonien, Rumänien oder Serbien haben dem Generalsekretär des Europarats nach Ausbruch der Corona-Krise mitgeteilt, sie würden gewisse Artikel der Konvention während der Krise nicht anwenden.
In Österreich oder Portugal erlaubt
Weil die Schweiz mit guten Gründen darauf verzichtete, ist gemäss den Klägern hierzulande die gesamte Konvention «vollumfänglich in Kraft geblieben», insbesondere Artikel 11, wo es heisst: «Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschliessen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.» Die Kläger monieren, dass die Behörden «von der Anordnung eines generellen Verbots hätten Abstand nehmen sollen».
Einschränkungen wären nur durchsetzbar gewesen, wenn sie jeden einzelnen Fall geprüft und dabei das Prinzip der Verhältnismässigkeit eingehalten hätten. Weil die Behörden dies ignorierten, seien die Genfer Gewerkschaften ihres Rechts beraubt worden, sich friedlich versammeln zu dürfen. In anderen Ländern wie Griechenland, Portugal und Österreich hätten Gewerkschaftsanlässe indes stattfinden dürfen.
«Auch wenn der Bundesrat die Corona-Verordnung aufhebt, der Gesetzesverstoss hat bereits stattgefunden.»
Warum haben die Gewerkschaften in Strassburg gegen die Schweiz und nicht direkt den Kanton Genf eingeklagt? Ihr Anwalt Olivier Peter sagt: «Eine Klage gegen einen Kanton ist in der Konvention nicht vorgesehen, und die Verordnung lässt den Kantonen auch keinerlei Spielraum, Kundgebungen zuzulassen.» Zudem sei die Schweiz, nicht der Kanton Genf, der Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Für den Fall, dass der Bundesrat diesen Mittwoch seine Verordnung aufheben wird, sagt Peter: «Der Gesetzesverstoss hat bereits stattgefunden und muss als solcher anerkannt werden.» Mit einem Urteil aus Strassburg ist erst in einigen Jahren zu rechnen. Zunächst wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüfen, ob die Klage gültig ist. Das bedeutet, es wird abgeklärt, ob die Gewerkschaften direkte Opfer eines möglichen Gesetzesverstosses geworden sind.
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