Gestörte Harmonie
Italiens oberstes Gericht erklärt Teile des neuen Wahlgesetzes für verfassungswidrig – und sorgt mit einem Beisatz für Verwirrung. Stehen nun bald Neuwahlen an?

Wenn es noch Italiener gegeben haben sollte, die nicht wussten, wie der Palast aussieht, in dem ihre Verfassungsrichter sitzen: Nun wissen sie es. Seit Tagen stehen sich TV-Reporter die Beine in den Bauch vor dem hübschen Palazzo an der Piazza del Quirinale, hoch über Rom. In den Direktschaltungen diente er als Kulisse, wenn vom wichtigsten Entscheid seit Jahren erzählt wurde, den das oberste Gericht fällen musste. Nun ist das Urteil da, und es birgt in sich beträchtliche Konsequenzen für die italienische Politik, kurz- und mittelfristig.
Das Verfassungsgericht hat wichtige Teile des neuen Wahlgesetzes für die Bestellung der Abgeordnetenkammer für verfassungswidrig erklärt. Das sogenannte Italicum war erst im vergangenen Sommer in Kraft getreten, kam also noch nie zum Einsatz, löste aber dennoch etliche Einwände aus.
Zwei davon halten die Verfassungsrichter für stichhaltig: Verfassungswidrig erachten sie erstens den Passus, wonach die beiden Parteien, die in der ersten Wahlrunde am meisten Stimmen erhalten haben, in einer Stichwahl gegeneinander antreten und dass der dann siegreichen Formation eine Sitzprämie zugesprochen würde. Umstritten war dieser Punkt, weil eine Partei, die zum Beispiel real 25 Prozent der Stimmen erreicht hätte, am Ende mit 54 Prozent der Parlamentsmandate hätte dastehen können. Nun müsste eine Partei schon in der ersten Runde mindestens 40 Prozent der Stimmen gewinnen, um den Bonus zu erhalten – ohne Allianzen ist ein solches Szenario wenig wahrscheinlich. Zweitens soll es den Spitzenleuten auf den Wahllisten nicht erlaubt sein, gleichzeitig in zehn Wahlbezirken anzutreten und dann auszuwählen, welches von gegebenenfalls mehreren Mandaten sie annehmen möchten. Das Verfassungsgericht liess ausrichten, dass das Gesetz so, wie es nun korrigiert wurde, automatisch anwendbar sei. Theoretisch wenigstens.
Jede Partei hat ihre eigene Agenda.
Italiens Politik stand dermassen im Bann dieses Entscheids, dass sie sich den Vorwurf gefallen lassen musste, subaltern des Entscheids der Richter geharrt zu haben, statt selber zu handeln. Das hätte sie nämlich auch tun können. Seit dem Nein zu Renzis Verfassungsreferendum Anfang Dezember war klar gewesen, dass der Wahlmodus geändert werden muss. Das «Italicum» war allein für die grössere Kammer und für den Fall gemacht, dass Renzi seine Parlamentsreform durchbringt und die beiden Häuser nicht mehr dieselben Kompetenzen haben. Nun aber bleibt es beim alten Zweikammersystem, in dem Senat und Abgeordnetenkammer gleichgestellt sind. Sitzen in den beiden Kammern unterschiedliche Mehrheiten, kann eine die andere bei jedem Geschäft blockieren. Die beiden Wahlgesetze müssen miteinander harmonieren. Tun sie das nun – oder muss das Parlament nochmals Hand anlegen? Die Meinungen der Parteien gehen weit auseinander. Jede hat ihre eigene Agenda.
Matteo Renzi, der Generalsekretär des Partito Democratico, würde gern möglichst bald wieder an die Urnen gehen. Die Hast überrascht: Die Niederlage beim Referendum war schallend, und die 60 Prozent «No» galten in erster Linie ihm und seiner Politik. Doch Renzi glaubt umgekehrt, dass ein schöner Teil der 40 Prozent «Sì» ihm und seiner Partei gehörten – ein Kapital für die Wahlen, das mit der Zeit verwehen könnte. Auch Beppe Grillo, der Gründer und Vordenker der Protestbewegung Cinque Stelle, drängt es zu Neuwahlen. Er ist der eigentliche Gewinner des Referendums, der Orchestermeister des Zorns. Würde heute gewählt, lägen die Cinque Stelle ungefähr gleichauf mit dem Partito Democratico, bei 30 Prozent. Das zeigen alle Umfragen, auch die jüngsten. Erstaunlich daran ist, dass selbst die Skandale in Rom, wo Grillos Partei die Bürgermeisterin stellt, und die Verwirrung um die Fraktionszugehörigkeit im Europaparlament die Wahlchancen bisher nicht geschmälert haben. Es ist, als prallte alles ab. Doch bleibt das auch so?
Die Rechte auf der Welle
Im rechten Lager dagegen, dem dritten Pol im italienischen Politgefüge, ist man sich uneins, scheinbar unversöhnlich. Die rechtsextreme Lega Nord und ihr Chef Matteo Salvini, wähnen sich auf einer Welle: der Brexit, die Wahl Donald Trumps, das Nein zur italienischen Verfassungsreform – alles lief, wie sie sich das erhofft hatten. Salvini würde gern bald wählen, egal, mit welchem Wahlgesetz. Doch die Lega allein wiegt nur rund 12 Prozent, sie braucht Alliierte. Zum rechten Pol gehört traditionellerweise die bürgerliche Forza Italia von Silvio Berlusconi, sie war bisher immer der Seniorpartner im Bündnis. Nun sind die beiden Parteien aber ungefähr gleich gross und Salvini möchte Chef sein. Er fordert Berlusconi auf, sich mit ihm in Vorwahlen zu messen.
Doch der mag nicht. Berlusconi kann Salvini nicht sonderlich gut leiden. Vor allem aber spielt er auf Zeit: Berlusconi ist zwar mittlerweile 80 Jahre alt, hat aber noch immer keinen Nachfolger bestimmt. Ausserdem ist er seit seiner definitiven Verurteilung wegen Steuerbetrugs nicht wählbar. Nun hofft er, dass ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte recht gibt und das Verbot aufhebt. Die Sentenz ist pendent. Von allen Parteistrategen hat es ausgerechnet der älteste am wenigsten eilig.
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