
Können sich die EU-Staaten im Streit um Asyl und Migration zusammenraufen? Beim Krisentreffen am Sonntag in Brüssel dürfte sich abzeichnen, wie die Chancen stehen, nationale Alleingänge zu verhindern, die das Ende der EU bedeuten könnten. Spätestens beim EU-Gipfel Ende nächster Woche müsste eigentlich Klarheit herrschen. Es steht jedenfalls viel auf dem Spiel.
Zum morgigen Krisentreffen hat Jean-Claude Juncker eingeladen. Nicht alle finden das gut, denn schliesslich ist es der Job von EU-Ratspräsident Donald Tusk, Treffen der Staats- und Regierungschefs zu organisieren. Die parallelen Aktivitäten im Brüsseler Europaviertel sind eine Illustration dafür, dass man selbst an der EU-Spitze nicht mehr immer am selben Strang zieht. Der Pole Tusk hat sich deutlich auf die Seite der Osteuropäer geschlagen, die auf Abschottung setzen.
Junckers Einladung ging offiziell an alle Länder, die an einer europäischen Lösung arbeiten wollen. Es ist aber kein Geheimnis, dass der EU-Kommissionspräsident den Mini-Gipfel angesetzt hat, um seiner Parteifreundin Angela Merkel aus der Patsche zu helfen. Ursprünglich hatte sich eine Achter-Gruppe mit Deutschland, Österreich, Italien und Griechenland angemeldet. Nun wollen 16 Staats- und Regierungschefs anreisen. Vor allem die Osteuropäer und die Balten fühlen sich nicht betroffen oder wollen beim Merkel-Retten nicht mitmachen.
Im Mittelmeer kann man keine Zäune installieren.
Die deutsche Bundeskanzlerin hingegen muss rasch etwas vorweisen, weil sonst ihr Innenminister Horst Seehofer und Koalitionspartner von der bayerischen CSU mit Alleingängen an der deutsch-österreichischen Grenze droht. Am Mini-Gipfel will man über bilaterale Abkommen reden, mit denen die Weiterreise von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten unterbunden werden sollen. In bestem Bürokratendeutsch ist von einem «flexiblen gemeinsamen Rücknahmemechanismus in der Nähe der Binnengrenzen» die Rede. Konkret sind wohl Camps gemeint, in denen Asylbewerber und Migranten festgehalten, überprüft und dann etwa von den deutschen Behörden nach Österreich überstellt würden. Angeregt werden auch Polizeikontrollen an Bus- und Bahnstationen sowie Flughäfen.
Drohender Dominoeffekt
Die Vorschläge werden immer radikaler und wirken gleichzeitig unausgegoren. So ist unklar, weshalb etwa Italien oder Griechenland Merkel am Sonntag zu Hilfe kommen und die Verschärfung mittragen sollen. Wenn Deutschland Asylbewerber nach Österreich abschiebt, wird Österreich dies gegenüber Italien auch wollen. Das dürfte wiederum die Regierung in Rom kaum akzeptieren können, weil sich dann alle Migranten und Asylbewerber sich in Italien stauen. Es wird nicht reichen, wenn Merkel ihrem Kollegen in Rom einfach mehr Geld in Aussicht stellt.
Es ist, als fände gerade ein Wettlauf statt, wer mit den radikalsten Ideen aufwarten kann. So will EU-Ratspräsident Tusk an seinem Gipfel am Donnerstag sogenannte «Ausschiffungsplattformen» vorschlagen. Mit dem Euphemismus sind Lager ausserhalb der EU auf dem Territorium nordafrikanischer Staaten gemeint. Dort soll eine erste Aufteilung zwischen sogenannten Wirtschaftsmigranten und Asylsuchenden mit Aussicht auf einen Schutz- oder Flüchtlingsstatus vorgenommen werden. Die Idee ist nicht das erste Mal in Diskussion, bisher aber wegen rechtlichen und praktischen Bedenken jeweils schnell verworfen worden. Die Lager dürften wie ein Magnet wirken und könnten ausgerechnet jene Länder in der Nachbarschaft destabilisieren, um deren Stabilisierung sich die EU sonst bemüht.
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Übersicht: So verhielten sich europäische Staaten während der Flüchtlingskrise

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Tusk will zudem das abrufbare Personal der Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex schon bis in zwei Jahren auf 10'000 Beamte vervielfachen. Das ist nicht falsch, fördert aber die Illusion, dass es nur genügend Personal braucht, um die Aussengrenze dicht zu machen. Das funktioniert aber auf der Seegrenze im Mittelmeer nicht. Dort kann man keine Zäune installieren. Es werden weiterhin Boote mit Migranten in See stechen und die Europäer werden sie retten und an Land bringen müssen. Zumindest solange man sich an die Flüchtlingskonvention und an das internationale Seerecht hält, wird sich also auch die Frage der Lastenteilung stellen.
Die Schweiz als Vorbild
Allerdings diskutieren die Europäer schon jetzt über Massnahmen, die sie noch vor kurzer Zeit als inhuman und illegal verdammt hätten. Der Wettlauf der radikalen Ideen wäre gar nicht nötig. Die EU riskiert so, ihre Werte aufs Spiel zu setzen. Dabei müsste die EU nur den Weg weitergehen, den sie seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015 gegangen ist. So erfolglos waren die Bemühungen der letzten Jahre nicht. Die Zahl der Asylbewerber hat sich seit dem Rekordjahr mehr als halbiert. Das Engagement der EU in Afrika und der Deal mit der Türkei etwa wirken durchaus. Die moralisch perfekte Lösung, das eine Zaubermittel gibt es dabei nicht. Die EU-Staaten müssten etwa nach Schweizer oder niederländischem Vorbild die Asylverfahren massiv beschleunigen. Die EU könnte zudem ihre Visapolitik stärker als Hebel einsetzen, um Länder dazu zu bewegen, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Sie müsste Migranten ohne Aussicht auf Asyl festsetzen bis die Ausschaffung geregelt ist und gleichzeitig mehr Flüchtlinge direkt aus Lagern in Nordafrika oder dem Nahen Osten nach Europa bringen.
Der EU-Gipfel nächste Woche müsste zudem die Reform der Dubliner Asylverordnung abschliessen, die einzig wegen des ideologischen Streits um Solidarität um die Aufnahme von Flüchtlingen blockiert ist. Die Asylreform würde einige der Defizite beheben, die jetzt mit bilateralen Abkommen aus der Welt geschafft werden sollen. Doch dafür müssten alle Beteiligten bereit sein für pragmatische Lösungen und Kompromisse. Die neue Achse der Populisten zwischen Budapest und Rom will das aber vielleicht gar nicht, weil Feindbilder und eine Radikalisierung der Konzepte nötig sind, um ihr die Deutungshoheit in Europa zu sichern.
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Gipfel gegen die Alleingänge
Die Europäische Union droht an der Asyl- und Migrationsfrage zu zerbrechen. Dabei wäre der Wettlauf der radikalen Ideen quer durch den Kontinent gar nicht nötig.