
Stress, Stress – und noch mehr Stress. Es scheint kein Ende zu geben, ob bei der Arbeit oder in der Freizeit. «Objektiv betrachtet, sind wir aber keinen wesentlich grösseren Belastungen ausgesetzt als noch unsere Eltern und Grosseltern», sagt Gregor Hasler in seinem Büro im Psychiatriegebäude auf dem Waldau-Areal mit Blick auf die Parkanlage. Wir hätten mehr Freizeit, die Herzinfarktrate sei tiefer, die Lebenserwartung höher und die medizinische Versorgung besser. Doch im Vergleich zu früher sei die Erwartung der Umwelt an uns gestiegen: Möglichst immer gut gelaunt, erfinderisch, motiviert, engagiert, entscheidungsfreudig, erreichbar und noch viele Likes auf Facebook und Co.
Der Chefarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern ist davon überzeugt, dass vor allem dieser von Jahr zu Jahr zunehmende «gefühlte» Stress uns auch krank macht. Es ist ein Dauerkampf um unseren sozialen Status, für den unser Gehirn nicht geschaffen ist. Hinzu kommt, dass wir im digitalen Zeitalter Freunde oder Nachbarn seltener treffen. Das sei eine fatale Entwicklung, da der Mensch den direkten Kontakt sowie persönliche Erlebnisse in der Kleingruppe dringend brauche. Denn diese stärken seine psychische Widerstandskraft, die sogenannte Resilienz, und machen ihn stark. Sie wappnen ihn, Stress besser auszuhalten und zu verarbeiten.
Gemeinsam statt einsam
Der renommierte Berner Stress- und Depressionsforscher ist Autor des Buchs «Der Wir-Faktor», das vor einem Jahr erschienen ist. Stärkere soziale Bindungen sowohl im engsten Umfeld als auch in unserer Gesellschaft seien ein Ausweg aus der «Resilienz-Krise». Bei unserem Treffen nimmt er sich Zeit, zeigt das Atelier für Maltherapie und erzählt dabei von seinem Hobby, der Porträtfotografie, sowie seiner Sammlung alter Leica-Kameras. Immer wieder klingelt zwischendurch sein Telefon. «Wenn es einen Notfall gibt, muss ich sofort weg», warnt er, da er auch Leiter einer Akutstation und der Depressionssprechstunde ist.
Der 49-jährige Berner Professor, der mehrere Jahre in Zürich und auch drei in den USA forschte, ist ein gefragter Redner auf Kongressen. Gerade kommt er aus Bangkok und aus New York zurück, wo er Vorträge über die Rolle des Botenstoffs Glutamat bei Depressionen, Angst und Stress hielt. Dort nenne man ihn den «Glutamat-Guy», sagt er und lacht. An den National Institutes of Health in Bethesda zeigte er 2005 erstmals an gesunden Probanden, was sich während einer akuten Stresssituation im Stirnhirn abspielt: Der Gegenspieler von Glutamat, der hemmende Neurotransmitter Gaba, sank stark ab. Für das Experiment verpasste er den Probanden am Fuss leichte Elektroschocks.
«Die Jäger und Sammler lebten damals friedlich in Kleingruppen.»
«Der Schmerz war vergleichbar mit dem Schlag eines elektrischen Weidezauns», erklärt Hasler. Interessant sei, dass angekündigte Stromschläge weniger Stress auslösten als unangekündigte. Das Gehirn könne erstaunlich gut mit vorhersehbaren negativen Ereignissen umgehen. Lebensbedrohliche Situationen seien indes fast immer stark belastend, wobei die Reaktion darauf auch sehr unterschiedlich sein könne. Nietzsches viel zitierte Aussage «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker» treibe unsere Fähigkeit zur Resilienz auf die Spitze. Wissenschaftliche Studien zeigen aber eher das Gegenteil, nämlich dass solcher Extremstress unsere Resilienz schwächt. Der Satz sei ihm wieder in den Sinn gekommen, kurz nachdem er in Brasilien von einem Kokainabhängigen aus heiterem Himmel einen harten Faustschlag mitten ins Gesicht bekommen habe. Der brutale Angriff habe ihn lang belastet und verunsichert, sei aber irgendwann nicht mehr so bedeutsam gewesen.
«Mit 13 war ich ein Computer-Kid und schrieb erfolgreich Programme für eine Anwaltskanzlei.»
Dass Hasler Medizin studierte, kam in seiner Familie zuerst nicht gut an. Sein Vater hätte ihn lieber als Informatiker in seiner Softwarefirma gesehen. «Mit 13 war ich ein Computer-Kid und schrieb erfolgreich Programme für eine Anwaltskanzlei und die Lagerverwaltung», sagt Hasler, der heute selbst einen Sohn (8) und eine Tochter (6) hat. Er habe damals mehr verdient als jetzt, allerdings sei das meiste Geld in den Betrieb geflossen. Nun versucht er, dieses Know-how erneut zu nutzen, und ist dabei, eine App für chronisch kranke Patienten zu entwickeln, die bei einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustands rechtzeitig Alarm schlägt und Hilfe holt. Die Idee ist, dass diverse Sensoren Auffälligkeiten in der Aktivität und im Tagesablauf registrieren, wie etwa ein falscher Tag-Nacht-Rhythmus. «Diese Daten sollen beim Patienten bleiben, sodass nur im Notfall eine Nachricht an Angehörige, Freunde oder den Arzt geht.»
Anders als sein risikofreudiger Vater, der früher als Vizepräsident des Schweizerischen Alpenvereins neue Eiswände hochgeklettert sei, wage er sich lieber auf neues Terrain in der Wissenschaft, sagt Hasler, der stets nach anderen, innovativen Behandlungsmöglichkeiten für seine Patienten sucht. So injiziert er bei schweren Depressionen geringe Dosen des bewährten Narkosemittels Ketamin, das in der Schweiz illegal auch als Clubdroge missbraucht wird. Dieser leichte Rausch auf Rezept ist vor allem für diejenige, bei denen sonst nichts mehr wirkt, ein Segen. Im Gegensatz zu anderen Antidepressiva reguliert Ketamin das Glutamatsystem und bringt innerhalb von wenigen Stunden Linderung. «Es wirkt sofort stimmungsaufhellend und senkt das Suizidrisiko», betont Hasler. Derzeit werde es auch als Nasenspray in klinischen Versuchen getestet. Dennoch sei Vorsicht geboten, da der Wirkstoff bei zu häufigem Gebrauch abhängig machen könne.
Selbstversuch mit Botox
Der Berner Psychiater setzt alles dran, das Therapieangebot zu erweitern, und will das Antifaltenmittel Botulinumtoxin gegen Depressionen wissenschaftlich untersuchen, indem er die Zornesfalten im Gesicht wegspritzt. «Schaut jemand nicht mehr so mürrisch drein, gibt es von anderen Personen positiveres Feedback», erklärt Hasler. Er habe dieses einfach anzuwendende Mittel auch schon bei sich ausprobiert. Die Wirkung sei frappant. Allerdings lasse sie nach drei Monaten wieder nach. Nun brauche er noch eine Finanzspritze für seine geplante Studie, um endlich zu starten.
Der umtriebige Mediziner hat am Schreiben Gefallen gefunden und arbeitet nun am zweiten Buch. Es mache ihm Spass, sich mit anderen Fachgebieten zu beschäftigen, sagt er. In seinem ersten Werk plädiert er dafür, sich auf unser evolutionäres Erbe und die kulturellen Wurzeln der Resilienz zu besinnen. So hätten etwa die Jäger und Sammler aus der frühen Steinzeit keine starken Hierarchien gehabt und friedlich in stabilen, kleinen Gruppen von 30 bis 100 Personen gelebt. Der Chef habe nicht mehr Fleisch bekommen als die anderen. Die Lösung der heutigen Stressepidemie sieht er somit auch nicht darin, die Belastung zu senken, sondern soziale, sinnstiftende und lustvolle Tätigkeiten zu stärken. Allein, oder noch besser im Team.
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«Glutamat-Guy» und sein Kampf gegen den Stress
Der Psychiater Gregor Hasler forscht über unsere psychische Widerstandskraft. Im Klinikalltag behandelt er depressive Patienten auch mit dem Narkosemittel Ketamin.