Grenzenlose Freiheit für Schnüffler
Privatdetektive erhalten zur Überwachung von möglichen Sozialbetrügern wohl mehr Rechte als die Polizei – dank massivem Lobbying im Parlament.

Das Verdikt aus Strassburg war unmissverständlich: Um Bezüger von Sozialversicherungsleistungen bei Verdacht auf Missbrauch zu observieren, fehlten in der Schweiz die gesetzlichen Grundlagen, rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2016. Die Richter hiessen deshalb die Klage gegen einen Schweizer Unfallversicherer gut, der eine Verdächtige verdeckt hatte überwachen, filmen und fotografieren lassen. Deren Grundrechte seien damit unrechtmässig verletzt worden, so der EGMR.
Das Urteil löste hierzulande eine Lawine aus. IV, Suva und andere Versicherungen sahen sich gezwungen, ihre Überwachungen einzustellen, Sozialämter stoppten ihre wilde Observationspraxis. Dafür wurde Bundesbern aktiv. Die Sozialkommission des Ständerats nahm umgehend eine Gesetzesrevision durch die Schaffung eines Observationsartikels in Angriff. Die erklärte Absicht: Die Versicherer sollen im Kampf gegen die von der SVP als «Sozialschmarotzer» titulierten Betrüger rasch wieder wirksame Waffen in die Hand bekommen.
Beinharte Vorlage
Das Resultat dieses Bemühens war eine beinharte Vorlage, die der Ständerat im letzten Dezember fast eins zu eins abgesegnet hat. Demnach können die Privatdetektive der Versicherer künftig Verdächtige wieder verfolgen und beobachten, Ton- und Bildaufnahmen sind dabei erlaubt. Selbst der Einsatz von GPS-Peilsendern ist zulässig, um etwa nachzuweisen, wer mit dem Auto wie oft wohin fährt.
Die Freiheit der Schnüffler ist fast grenzenlos. Denn das alles soll nicht nur auf öffentlichem Grund möglich sein, sondern auch an Orten, die «von einem allgemein zugänglichen Ort frei einsehbar sind». Will heissen: Ein Detektiv darf sich jederzeit im Gebüsch verstecken und von dort aus filmen und aufnehmen, was auf einem Balkon passiert oder geredet wird.
Richter braucht es nicht
Ob und wann die Versicherungen jemanden auf Verdacht hin so verdeckt beschatten lassen, entscheiden diese selbst. Eine richterliche Genehmigung braucht es dafür nicht. Damit erhalten die Sozialdetektive mehr Rechte als Polizei und Staatsschützer bei der verdeckten Observation von Straftätern und Terroristen. Einzig zwei Ausnahmen baute der Ständerat gegen den Willen seiner Kommissionsmehrheit ein: Die Überwachungszeit soll beschränkt und für die GPS-Tracker eine Verfügung des Richters nötig sein.
Juristen stehen die Haare zu Berge. «Die Observation wird mit diesem Gesetz an Private ausgelagert, die erst noch weitergehende Rechte erhalten als die Strafverfolgungsbehörden, ohne dass sie aber einer vorgängigen, unabhängigen Kontrolle unterstellt wären», sagt etwa der Basler Staats- und Verwaltungsrechtler Markus Schefer. «Das nötige Minimum wäre gewesen, für alle Massnahmen eine richterliche Genehmigung zu verlangen.»
Bürgerliche kippen plötzlich
Das sah auch die Sozialkommission des Nationalrats (SGK) so, als sie die Vorlage Ende Januar beriet. Sie beschloss deshalb, die Vorlage des Ständerates zu entschärfen: «Eine Observation soll unabhängig von den eingesetzten Instrumenten in jedem Fall von einem Richter des kantonalen Versicherungsgerichts genehmigt werden.»
Aber nur einen Monat später wollte die SGK nichts mehr davon wissen. Die bürgerliche Kommissionsmehrheit strich die Einschränkung kurzerhand wieder aus dem Gesetz und übernahm die Version des Ständerates. Die offizielle Begründung für den plötzlichen Meinungsumschwung: Gemäss Auskunft des Bundesamtes für Justiz sei auch ohne richterliche Bewilligung «eine zentrale Voraussetzung für die Verwertbarkeit von erhobenen Beweisen in einem allfälligen Strafverfahren» erfüllt, teilte die SGK mit. Doch das ist ein Teil der Wahrheit. Der andere heisst: Lobbying.
Druck zeigt Wirkung
Der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) und die Suva intervenierten zwischen den beiden SGK-Sitzungen direkt bei den Kommissionsmitgliedern, wie zuerst die «Wochenzeitung» berichtete. Mit einem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, setzten sie mächtig Druck auf: Richterliche Bewilligungen für alle Observationsmassnahmen einzuholen, sei «eine massive und praxisuntaugliche Verschärfung» der bisherigen Praxis, kritisieren die Versicherer. Denn dadurch «würden hohe Kosten und zeitliche Verzögerungen entstehen, welche eine effiziente Verfolgung von Betrugsversuchen faktisch verunmöglichen».
«Es ist bedenklich, wenn die Suva so stark lobbyiert, wie sie das in diesem Fall getan hat.»
Kurzum: Blieben die Genehmigungspflichten im Gesetz, betonen SVV und Suva, bedeute das «eine Besserstellung von potenziellen Betrügern» zulasten «ehrlicher Prämienzahler». Gestern legte die Suva noch einmal nach: Bleibe das Gesetz so, wie es nun am kommenden Montag in den Nationalrat komme, könne die Suva «ungerechtfertigte Rentenzahlungen in Millionenhöhe verhindern», liess sie per Mitteilung wissen. Konkret habe die Suva 2017 rund 12,5 Millionen Franken an ungerechtfertigten Zahlungen verhindert, heisst es darin weiter, 5,5 Millionen weniger als im Vorjahr: «Der Grund sind die fehlenden Detektiveinsätze.»
Markus Schefer hält das Vorgehen der Suva für fragwürdig. «Es ist bedenklich, wenn die Suva so stark lobbyiert, wie sie das in diesem Fall getan hat», sagt der Staatsrechtler. «Problematisch ist die Konstellation: Die Suva als Staatsorgan lobbyiert an der Verwaltung vorbei, die eigentlich für die Information des Parlaments zuständig ist.»
Die Suva ist sich keines Fehlers bewusst. Sie vertrete die Interessen ihrer versicherten Betriebe sowie ihrer Mitarbeitenden wie andere bundesnahe Betriebe auch, heisst es auf Anfrage. Die Suva sei kein Staatsorgan, sondern handle autonom und bringe Informationen in den politischen Prozess ein.
Nationalrat dürfte folgen
Es ist absehbar, dass der Nationalrat seiner Kommission folgen und deren Vorlage abnicken wird. SGK-Mitglied Silvia Schenker weiss das und ist darob «fassungslos». Die Haltung gegenüber Sozialversicherten, die darin zum Ausdruck komme, sei erschreckend, sagt die Basler SP-Nationalrätin: «Alle werden grundsätzlich des möglichen Missbrauchs verdächtigt.»
Woran sich Schenker besonders stört: Sämtliche Schwellen für einen angemessenen Grundrechtsschutz seien zu tief angesetzt, wie auch die Rechtswissenschaft kritisiere. Das wisse ebenfalls die rechte Mehrheit. Für Schenker ist deshalb klar: «Es ist eine Frage der Zeit, wann aufgrund dieses Gesetzes der nächste Fall in Strassburg landet. Dann sind wir zurück auf Feld 1.»
Jurist Schefer zweifelt zwar nicht, dass das Gesetz bei der Missbrauchsbekämpfung wirken werde. «Doch der Preis, den wir mit dem Verlust unserer Freiheit dafür zahlen, ist viel zu hoch.» Und er sieht noch andere Gefahren: Erstmals erteile der Gesetzgeber Kompetenzen zur Observation, die nicht den Bereich des Strafrechtes oder des Staatsschutzes, sondern nur einen besonderen Lebensbereich beträfen, so Schefer: «Das hat Signalwirkung. Denn aus rechtlicher Sicht könnten mit der gleichen Missbrauchsargumentation im Sinne der Gleichbehandlung solche weitgehenden Massnahmen auch etwa im Bereich der Steuern gefordert werden. Wollen wir das?»
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