Grossartiges Polittheater im pompösen Rahmen
In Italien beginnen die Konsultationen für eine neue Regierung. Ein Vorgang mit völlig unabsehbarem Ausgang.

Wenn man vor dem Palazzo del Quirinale steht und auf Rom herunterschaut, dann wirkt die Stadt, die einmal das Zentrum der Welt war, ganz klein. Wie ein hingewürfeltes Gewirr von Bauklötzchen. Und der Palast auf dem gleichnamigen Hügel, Sitz des Staatspräsidenten, mutet dann noch viel grösser an als die 110'500 Quadratmeter Fläche, die er misst. Das Weisse Haus in Washington passt siebenmal in den Quirinal.
Mindestens die Hälfte seiner Strahlkraft bezieht der Palazzo aber aus der Geschichte, die ihn umweht und bewohnt. Dreissig Päpste, von Gregor XIII. bis Pius IX., haben lieber hier residiert statt unten, im feuchten Vatikan beim Tiber. Die Kirchenväter lebten nicht nur im Sommer hier, sondern das ganze Jahr. Für drei Jahrhunderte war der Quirinal der ständige Zweitsitz der Kirchenspitze. Ab 1870 sassen die Könige Italiens im Palast. Und seit 1948 wohnen da die Präsidenten der Republik. Kirche, Monarchie, Republik – alles in einem Haus.
Liturgie ohne klare Regeln
In diesem entrückten Rahmen beginnt diese Woche das Ritual der Konsultationen für die Regierungsbildung. Und immer werden Corazzieri Spalier stehen, wie die Männer aus dem Sonderregiment der Carabinieri heissen, die im Dienst des Staatschefs stehen, alle mindestens 1,90 Meter gross, mit Schweif am Helm und oft zu Ross. Sie allein sind ein Spektakel.
Selten war die Suche nach einer neuen italienischen Regierung schwieriger als diesmal, nach den Wahlen vom 4. März. Das Parlament ist in drei grosse, politisch eigentlich unverträgliche Blöcke geteilt, von denen es keiner ohne Hilfe des Gegners zu einer Sitzmehrheit bringt: Der Protestbewegung Cinque Stelle fehlen in der Abgeordnetenkammer etwa neunzig Sitze, dem gesamten Rechtsbündnis ungefähr fünfzig; und die Sozialdemokraten kommen ohnehin höchstens als Juniorpartner infrage. Es ist deshalb gut möglich, dass nicht nur eine Konsultationsrunde nötig sein wird, sondern zwei, womöglich sogar drei. Mehr gab es bisher noch nie.
Erdrückt von der Geschichte
Doch was heisst das schon? Fast nichts ist vorgegeben in dieser «republikanischen Liturgie», wie die Medien es nennen, ausser dies: «Der Präsident der Republik nominiert den Präsidenten des Ministerrats und, auf dessen Vorschlag, die Minister.» So steht es in der Verfassung, Artikel 92. Der Rest ist barockes, zuweilen grossartiges Polittheater, aufgeführt im Palazzo del Quirinale, genauer: im Studio alla Vetrata.
So heisst das Büro, in dem der Präsident Gäste empfängt. Es dient als Bühne. Unter dem Kronleuchter steht ein französischer Schreibtisch, 17. Jahrhundert, davor Fauteuils mit goldenen Bordüren für die Besucher. Dort werden sie alle sitzen, erdrückt von der Geschichte. Die neuen Präsidenten der Parlamentskammern sind am Mittwoch dran, die Delegationen der Parteien am Donnerstag und Freitag, zuerst die kleinsten. Und jedes Mal, wenn eine Abordnung wieder wegfährt, werden Fernsehteams zugegen sein und die Mimik aller Gäste heranzoomen, als liesse sich darin die Zukunft des Landes ablesen.
Die zwei Präsidententypen
Der Herr, von dem jetzt jeder wissen möchte, wie er tickt, heisst Sergio Mattarella. Er ist 76, ein Sizilianer, seit drei Jahren Staatspräsident. In dieser Zeit haben die Italiener den linken Christdemokraten und ehemaligen Verfassungsrichter als sanftmütigen, dauerlächelnden, etwas steifen Vater der Republik erlebt, der seine Befugniszone nie verlässt. Viel mehr aber wissen sie nicht. In normalen Zeiten mit funktionierenden Regierungen ist ein italienischer Präsident ein Zeremonienmeister, der dem Land gut zuredet und Orden verteilt. In Zeiten wie diesen aber hängt alle Macht an dem, der den Regierungsauftrag vergibt. Er ist frei, er darf fast alles.
Es gibt zwei Typen von Präsidenten in Italien. Typ eins mischt sich politisch ein, man nennt sie «Interventionisten». Mattarellas Vorgänger Giorgio Napolitano war so einer. Er trug den Spitznamen «Re Giorgio», König Giorgio. Als das Land 2011 am Rand eines Finanzkollapses stand, berief Napolitano den Technokraten Mario Monti zum Regierungschef, ohne Wahlen. Damit sollten die Märkte und das Ausland beruhigt werden. Es war eine Notoperation, der Präsident als Chirurg: Er wurde dafür auch hart kritisiert. Typ zwei waltet wie ein Notar, unparteiisch und unauffällig. Mattarella, so scheint es, zählt zu dieser Kategorie. Als er sein Amt antrat, sagte er, er wolle dem Land ein Schiedsrichter sein. Von den Politikern erwarte er Fairness und Respekt für die Spielregeln. Ein hehrer Anspruch.
Fouls und Finten
Vier Wochen nach der Wahl ist noch immer rätselhaft, wer mit wem regieren könnte oder möchte. Geredet wurde viel. Noch mehr aber wurde taktiert, geflunkert und geblufft. Im Fussball würde man von Schwalben, Finten und Fouls reden, von kleinen Unsportlichkeiten. Manche Optionen scheitern an den Egos der Involvierten, andere an programmatischen Differenzen. Sollte sich dennoch eine Koalition finden lassen, die im Parlament mehrheitsfähig wäre, würde Mattarella sie wahrscheinlich einfach billigen – egal, wie die aussähe. Selbst eine Regierung allein aus Populisten, aus Cinque Stelle und der rechtsnationalen Lega, würde er zulassen, obschon eine solche im Ausland Sorge auslösen würde und ihm auch persönlich missfiele. Er will ja nur Schiedsrichter sein.
Doch was ist, wenn sich nach der zweiten oder dritten Sondierungsrunde kein Wille zu einer Mehrheit abzeichnet? Wollte er dann noch immer unparteiisch bleiben, müsste Mattarella Neuwahlen ansetzen. Im anderen Fall verwandelt er sich vielleicht doch noch in einen «Interventionisten» und appelliert an Vernunft und Verantwortung der einen und anderen, hilft beim Schmieden neuartiger Allianzen, spaltet damit Parteien, schlägt Persönlichkeiten vor, die das Land etwa mit einer «Regierung von allen» oder mit einer «Zweckregierung» für einige wenige Geschäfte anführen könnten, selbst solche, an die nun wirklich gar niemand gedacht hätte, weil, nun ja, das Land in einer Notlage schwebe. Mehr Regisseur als Referee.
Und dann wären in diesem Stück plötzlich sehr viele Epiloge möglich. Unabsehbare, originelle, belebt vom eklektischen Geist des Quirinals.
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