Grosse Familie am Bahngleis
In Volketswil verwandelt die BMX-Szene eine schmucklose Gegend in ein farbenfrohes Spektakel.
Da steht eine Velopumpe, dort liegen Bananenschale, Rucksack und Helm am Boden. Daneben sitzt Simon Marquart auf seinem Velo, dessen Hinterrad sich gerade auf Rollen dreht, sodass er an Ort treten kann. «Das Ausfahren zwischen den Läufen ist gegen das Übersäuern der Beine», erklärt der 20-jährige Winterthurer unter dem Vordach einer Lieferrampe im Volketswiler Industriegebiet. Ganz nah und doch ganz fern seiner eigentlichen Bühne.
Gut 100 Meter weiter weg steht das Startgatter der BMX-Bahn, an diesem Samstag sowie tags darauf Schauplatz des Swiss Cup. Aber während sich die anderen Fahrer gemeinsam in Teamzelten auf die nächsten Rennen vorbereiten, zieht sich Marquart zurück, scheint nicht so recht in diese ganz eigene Welt zu passen. «Wir sind eine Community, eine Familie», beschreibt es Marion Gwerder, die Co-Präsidentin des Veranstalterclubs Volketswil. Viele der Teilnehmer reisen bereits am Freitag an und bleiben mit dem Camper bis Sonntag in unmittelbarer Nähe zur Rennstrecke.
Sie stören sich nicht am wenig idyllischen Umfeld: Rennbahn und Camping liegen direkt an der Bahnlinie und in der Gewerbezone. Da, wo normalerweise Kunden der Pizzeria parkieren, sitzen die Fahrer in Zelten, trinken Isostar und essen Energieriegel. Nebenan verkauft ein mitgereister Händler alles Nützliche: vom Ersatzpneu über Startnummernhalterungen bis hin zu Speichen, Sätteln oder Lenkstangen.
Entscheidende zwei Sekunden
Dieses Wochenende finden die zwei letzten Rennen der höchsten nationalen Serie statt. Die 180 Teilnehmer meist männlichen Geschlechts fahren in zehn Kategorien: von den unter Achtjährigen bis hin zu den über Dreissigjährigen, wo meist Väter und Mütter zum Spass mitmachen.
Zu acht stehen sie gleichzeitig vor dem Startgatter in den Pedalen, aus den Boxen ertönt das Kommando «Riders ready, watch the gate». Der Hit «Can't Hold Us» von Macklemore dröhnt übers Gelände – und dann hält die Fahrer nichts mehr. Vollgas geht es die Fünfmeterrampe hinunter, in diesen zwei Sekunden nach dem Start wird das Rennen meist bereits entschieden: Wer bei den ersten Bodenwellen vorne liegt, bringt den Vorsprung oft ins Ziel.
Gute 30 Sekunden oder 400 Meter lang holen die Fahrer alles aus sich heraus, BMX ist eine Sprintdisziplin. Die kleinen Drahtesel, die Helme und die Ausrüstungen in allen Farben hauchen der grauen Gegend Leben ein. Geschmeidig geht es über die Unterlage aus Mergel über 40 Wellen auf und ab. Es wird gesprungen oder die Bodenwelle mit scheinbarer Leichtigkeit gedrückt. In den drei Steilwandkurven wird am härtesten gekämpft, immer wieder mal kommt es zu Stürzen.
Damit alles regulär abläuft, überprüfen Kommissäre am Streckenrand die Fahrer. Dank einem Transponder am Velo wird die gefahrene Zeit auf den Tausendstel genau ins Rennbüro weitergeleitet. In der Mitte der Strecke tigert Beni Müller auf und ab. Er ist Speaker, macht dies zum ersten Mal und staunt öffentlich über das hohe Tempo, sodass er manchmal mit Kommentieren gar nicht nachkommt: «Es gaat ab wie s Bisiwätter.»
Er kam zum Sport durch Nachbarn, die seinen Sohn einmal mit zum Training nahmen. Nun geht der erste Sommer zu Ende, den die Müllers Wochenende für Wochenende an den Strecken verbringen. Beim Heimrennen steht Mutter Susanne in der Küche des Clubhauses und macht Crêpes, während Fahrer und Sohn Lorenz, 11-jährig und noch unerfahren, mit wenig zufrieden ist: «Einfach nicht Letzter werden.»
Nur drei erhalten Unterstützung
Da passt der Name des 1985 gegründeten BMX-Clubs Volketswil: Grab on Kids. Dranbleiben, Kinder. Der Spruch ist auch als Aufforderung an die Sportart zu verstehen. Im Clubhaus erinnern Zeitungsartikel der 1980er-Jahre an die goldenen Pioniertage, dafür ist BMX seit 2008 olympisch. Tokio 2020 ist denn auch das Ziel von Simon Marquart. Er ist Profi in einem Sport, in dem Profitum selten ist. Nur die besten drei der Schweiz werden vom Verband unterstützt, sodass Marquart seit Abschluss der KV-Lehre vor allem dank der Sporthilfe ganz auf BMX setzen kann.
Zuschauer ohne persönlichen Bezug zu den Fahrern: Fehlanzeige. Man kennt sich, und genau dieser Zusammenhalt innerhalb der Szene, wo am Abend gemeinsam grilliert wird, gefällt Marion Gwerder. Als Mutter unterstützt sie ihren Sohn beim Sport und geniesst das Zusammensein, denn: «Welcher Sohn oder welche Tochter hat mit zwanzig noch Lust, im selben Auto wie die Eltern zu übernachten?»
Nicht Marquart. Der Tagessieger nimmt einige Gratulationen entgegen, entfernt sich dann aber schnell vom Renngelände und geht an seinen persönlichen Rückzugsort. Während die anderen hier campen, fährt er mit dem Auto nach Hause.
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