Guns N' Roses, Bier und Begonien
Im Letzigrund Hardrock, bei den Nachbarn Ländler. Der einzige gemeinsame Nenner: Bier.
Es gibt Restaurants, deren Namen in die Irre führen. Zu ihnen gehört das Tea Room Siesta. In der Quartierbeiz gleich neben dem Letzigrund gibt es weder ruhende Spanier noch Tee trinkende Engländer. Dafür viele Hardrocker. Der Zapfhahn läuft fast pausenlos. Glas um Glas wird an diesem Mittwochabend mit Bier gefüllt. Er dient als Diesel für die Konzertgänger, die sich hier in Stimmung trinken. Sie warten auf ihre Jugendhelden: auf den nicht mehr ganz so taufrischen Sänger Axl Rose und seinen unverwüstlichen Gitarristen Slash, auf Guns N' Roses.
Für Wirt Stefan Keller geht die Rechnung auf. «Rocker mögen Bier, also mögen wir die Rocker.» Der gutbürgerliche Wirt und die Rocker: Das ist keine Beziehung aus Leidenschaft, sondern wie eine gut funktionierende Zweckehe. Aus dem Hintergrund verbreiten die Stars des Abends Aufbruchstimmung: «Take me down to the Paradise City, where the grass is green and the girls are pretty …». Noch dröhnt die Musik aus dem Lautsprecher.

Das musikalische Jahresprogramm im Letzigrund ist für den Wirt jeweils matchentscheidend. Vier Konzerte dürfen jährlich im Letzigrund durchgeführt werden. Für Keller bedeutet dies viermal top oder flop. Als Justin Bieber einst im Letzigrund aufspielte, kamen doppelt so viele Leute, doch der Umsatz betrug nur die Hälfte. «Teenager bringen ihr eigenes Bier mit, wenn sie überhaupt welches trinken», sagt Keller. Einige der extra für den Anlass bestellten Fässer blieben damals ungeöffnet.
Die Balkonperspektive
Anwohner R. F.* ist es egal, wer im Letzigrund aufspielt. Was für ihn zählt, sind die Sattelschlepper. Sie sind ihm ein Gräuel, seit sie hier auffahren. So richtig los ging es vor zehn Jahren, als der neue Letzigrund eröffnet wurde. R. F., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, tritt auf seinen Balkon, zeigt über seine rot blühenden Begonien hinweg in Richtung Stadion. Rund 50 Meter Luftlinie entfernt befindet sich das akustische Ärgernis.
R. F. holt aus zur lautmalerischen Erklärung über «Echokeulen», die regelmässig durch die Häuserschluchten der Anwohner schwingen. Der Helikopter, der heute über den Köpfen kreist: «Frrrrrrrr», die Rasenmäher: «Määäh», die Laubbläser, «Rrroaaar», die Knallpetarden der Hooligans: «Peng!». Der Rentner läuft zu schauspielerischer Hochform auf. Aus dem Letzigrund singt der inzwischen real auferstandene Axl Rose: «It's been 14 years of silence, it's been 14 years of pain» («Seit 14 Jahren herrscht Stille, es waren 14 schmerzvolle Jahre»). Die Ruhe spürt R. F. schon lange nicht mehr, dafür den Schmerz. Genauer: «Ohrenschmerz», wie er sagt.

Der 74-Jährige, der seit Geburt in der gleichen Siedlung wohnt, hat gelernt, mit äusseren Einflüssen umzugehen. Wenn es ihm zu viel wird, dann verzieht er sich hinter die schallisolierten Fenster in sein Wohnzimmer und hört Ländler – «meine Musik». Es seien nicht die Konzerte oder die Fussballfans, die ihn stören, sondern die Nebengeräusche der Auf- und Abräumarbeiten. Von der Anlieferung des Bühnenmaterials über die Installation von Soundanlagen bis zum Abbau der Zeltinfrastruktur vergehen bei jedem Konzert zehn Tage. Zwischen 7 Uhr morgens bis Mitternacht darf gehämmert und gezimmert werden, die Mittagszeiten ausgenommen.
Konzerte als Cashcow
«Ich bin ein toleranter Mensch», sagt R. F. Doch es gebe etwas, das ihn rasend mache: wenn man ihn anlüge. Die Stadionbetreiber, aber vor allem der Stadtrat, der den Anwohnern im Jahr 2007 «falsche Versprechen» gemacht habe. In der Informationsbroschüre stand damals, dass die erste Mannschaft des FCZ «ihre Spiele dereinst im privat finanzierten Fussballstadion auf dem Hardturm-Areal austragen wird». Auf Anfrage des «Tages-Anzeigers» bekräftigt der Stadtrat, dass sich betreffend Letzigrund-Anlässe in nächster Zeit nichts ändern werde. Die Konzerte sind für die Stadt eine Cashcow. Der zuständige Stadtrat Gerold Lauber (CVP) wandte sich im vergangenen Dezember schriftlich an die «gestressten Mieter»: «Die Konzerte sind für die Stadt Zürich finanziell lukrativ, weshalb angesichts der angespannten Finanzlage auf diese Einnahmen nicht verzichtet werden kann.»
«Angesichts der Finanzlage will die Stadt Zürich nicht auf die lukrativen Konzerte verzichten.»
«Wir fühlen uns über den Tisch gezogen», sagt R. F. Er klappt einen dicken Ordner auf. Es ist die archivierte Korrespondenz zwischen ihm und Lauber. «Sehr geehrter Herr Stadtrat Lauber . . .», der erste Brief datiert vom 10. Dezember 2007. Die «Brieffreundschaft» hält bis heute an, wie R. F. meint. «Wer etwas erreichen will, muss sich immer direkt an die obersten Instanzen wenden.» In den grossen Fragen, müssen die Anwohner sich geschlagen geben: Sämtliche Vorstösse betreffend Konzerte oder Platznutzung der Sattelschlepper wurden vom Stadtrat abschlägig beantwortet.
Dennoch ist der Rentner zufrieden. Es sind die kleinen Erfolge, die er für sich und die Nachbarschaft verbuchen kann. Direkte Gespräche mit den Stadionbetreibern haben zu konkreten Verbesserungen geführt. Die Rasenmäher: ersetzt durch ein leiseres Modell. Die Laubbläser: wegrationalisiert. Die Trillerpfeife aus dem GC-Training: seit einigen Monaten verstummt. Die Gartenpinkler: mit mehr Toi-Tois gefügig gemacht. «Aus meiner Sicht haben wir die Lage im Griff», sagt R. F.
«Wer etwas erreichen will, muss sich immer direkt an die obersten Instanzen wenden.»
Im Kampf gegen die Lärmemissionen ist der Rentner die treibende Kraft. Er ist kein Wutbürger, der wüste Schimpftiraden vom Balkon bellt. Sondern ein aufgeklärter Demokrat, der das Gesetzbuch und damit seine Rechte auswendig gelernt hat. Ein Robin Hood in ausgelatschten Crocs. Mancher Nachbar dürfte ihm dankbar sein für sein Engagement. Für die Stadt und die Stadionbetreiber dürfte der aufmüpfige Rentner eher ein Behördenschreck sein. Einer, der nicht ruht, solange er sich und die Nachbarn ungerecht behandelt fühlt.
R. F. setzt sich in den dick gepolsterten Balkonsessel wie ein langjähriger Krieger, der mit ersten Ermüdungserscheinungen zu kämpfen hat: «Wenn alles so bleibt, kann ich damit leben.» An ein neues Hardturm-Stadion als Ausweichoption mag er nicht mehr glauben: Mit den zwei «Wurst-und-Brot-Mannschaften», die Zürich zurzeit zu bieten habe, liesse sich ein zweites Grossprojekt kaum rechtfertigen. R. F. rutscht tiefer in den Sessel und öffnet eine Dose Feldschlösschen.
Das Kriegsbeil ruht
Das Bier ist der einzige gemeinsame Nenner mit den Fans, die an diesem Abend im und ums Stadion versammelt sind. Der männliche Durchschnittsbesucher ist weiss, langhaarig und bemerkenswert bleich für die Jahreszeit. Ihre Begleiterinnen sind ebenfalls bleich, tragen typischerweise Netzstrümpfe, viel Metall im Gesicht und gefärbte Haare. Oftmals ein grelles Karottenrot, so wie Axl Rose.
Video – hatten die Fans in Zürich Angst vor Terror?
Dieser hat inzwischen ein Paul-McCartney-Cover angestimmt, dessen Text gut zur friedlichen Stimmung passt: «Live and let die, live and let die» («Leben und sterben lassen, leben und sterben lassen»). Zurzeit ruht das Kriegsbeil auf dem Letzigrund. Fragt sich nur, wie lange. Bereits am 18. Juni folgt der nächste Grossanlass: Depeche Mode – die britische Band, die für ihre pompösen Konzerte bekannt ist.
Der Wirt vom Tea Room Siesta ist gut beraten, wenn er seinen Biervorrat vorsorglich aufstockt. Die Anwohner sollten in die Ferien verreisen. Oder die Ländlermusik aufdrehen, wenn es kein Entkommen gibt.
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