Hat alles einen Sinn – auch Demenz?
Die Antwort auf eine Frage zum Thema Krankheit im Alter.

Mein Bruder (76) hat vor drei Jahren mit Parkinson-Symptomen angefangen und ist jetzt in einem Demenz-Pflegeheim. Er höhlt sich innerlich aus, sein Kopf schrumpft, ergeben blickt er in eine Leere. Für mich und die Angehörigen ist das, auf unterschiedliche Weise, eine Tragödie. Nun rät eine Bekannte, die «Sache» aus einem «ganz anderen» Blickwinkel zu betrachten und (mit dem Pfarrer und Buchautor Hans Stolp) Demenz als eine «sinnvolle Lebensphase» zu betrachten. Natürlich ist der Demenzpatient kein «erledigter Fall». Aber so eine Sichtweise macht aus allem etwas Sinnvolles, hebt und verharmlost es dabei.K. P.
Lieber Herr P.,
Als «Pfarrer und Sterbebegleiter», so bewirbt der Aquamarin-Verlag das Buch seines Autors Hans Stolp über «Die ersten drei Tage im Jenseits», «hat er an unzähligen Sterbebetten gesessen und den Menschen bei ihrem Übergang in eine höhere Welt geholfen». Da wird man ihn getrost auch als Gewährsmann für demenzielle Sinnstiftung in Anspruch nehmen dürfen.
Heiliger Bimbambumm, was haben Sie auch für Bekannte? Haben Sie in einem früheren Leben etwas grundlegend falsch gemacht, dass Sie mit so einer geschlagen sind? Da mich das allerdings nichts angeht, kann ich Ihnen schlicht nur recht geben, wenn Sie von dergleichen Versinnlichungen nichts halten.
Die psychosomatische Literatur strotzt von solchen Sinngebungen (Krebs als Botschaft und als Chance).
Gleichzeitig muss man feststellen, dass Herr Stolp nur die Spitze der Sumpfblüte darstellt. Die psychosomatische Literatur etwa strotzt von solchen Sinngebungen (Krebs als Botschaft und als Chance). Woher stammt diese Tendenz einer allgegenwärtigen Sinnunterstellung?
Ich glaube, sie ist wie das Vertrauen in unsere Wahrnehmung und in andere Menschen, eine Art psychologische Default-Einstellung. Selbst wenn ich kaum etwas entschlüsseln kann, was jemand mir gerade erzählt, so werde ich zunächst nicht annehmen, dass der Arme tatsächlich nur sinnlose Silben lallt, sondern eher davon ausgehen, dass ich gerade Mühe habe, seinen besonderen Dialekt zu verstehen. Ich nehme das Sinndefizit also zunächst mal auf meine Kappe. Was durchaus eine – tadaa! – sinnvolle Haltung ist. Wir geben einander sozusagen Sinn-Vorschuss.
Aber man kann damit auch übertreiben; und dann besteht der «tiefe Sinn» von X oder Y nur noch in haltlosen Projektionen. Wenn man vom Hofe des ägyptischen Pharaos die Reste des königlichen Hühnerhofes ausgegraben hätte, würde Herr Stolp behaupten, die versteinerten Hühnertritte seien die Überbleibsels einer uralten vergessenen Schrift, in welcher uns grosse Weisheit verkündet werde.
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