Hat hier jemand Jazz gesagt?
Der Saxofonist Shabaka Hutchings spielt als Solist und als Leader der Band Sons of Kemet die Musik der Stunde. Sie weist weit über den Moment hinaus.

Der DJ lässt einen letzten Track aufs Publikum los, «it's now or never», sagt er noch. Und eigentlich meint man, dass dieses Jetzt oder Nie auch für die Band Sons of Kemet gilt, die gleich im Anschluss im grössten Saal des Musikfestivals Le Guess Who? im holländischen Utrecht auftritt – jenem Festival mit einem überschäumenden Programm, für das Tausende aus ganz Europa anreisen, weil es so viel verschiedene Musik zu hören gibt, bloss keine Banalitäten.
Aber die Band, die nun die Bühne betreten hat, peitscht nicht einfach weiter, sondern fängt ganz leise an. Mit einer Klarinettenweise, die beinahe andächtig stimmt und beinahe verletzlich klingt. Ehe Shabaka Hutchings die Klarinette gegen das Saxofon eintauscht, der Tubist Theon Cross den Bass vorgibt, und die Rhythmen der Drummer – normalerweise sind es zwei, an diesem Abend gar vier – ins Rollen kommen.
Es ist eine entfesselnde Tanzmusik, die die Sons of Kemet dann spielen, eine, die die Lautstärke und Ausgelassenheit des karibischen Strassenkarnevals mit harschen Grossstadtsounds verbindet. Shabaka Hutchings, der die Band zusammengestellt und auch einen Teil des Festivalprogramms kuratiert hat, spuckt die Saxofonlinien mit der Präsenz eines hochenergetischen Rappers aus, er treibt die Schlagzeuger an, das ärmellose schwarze Unterhemd betont seine Muskeln. Er tänzelt, spielt, nimmt das Tempo und die Lautstärke auch mal raus, tänzelt weiter, treibt wieder an. Bis alle tanzen.
Die Aliens, die Nachfahrender verschleppten Sklaven
Einen Tag vor dem atemraubenden Konzert sitzt Shabaka Hutchings mit Brille und Kappe und einer weiten Jacke mit afrikanischen Printmustern in einer Hotellobby der holländischen Unistadt. Er ist gerade gefragt; spätestens seit dem dritten Sons-of-Kemet-Album «Your Queen Is a Reptile», das in den verschiedenen Tracks der weissen Königin emanzipatorische Frauenfiguren aus den afrodiasporischen Communities entgegenstellt, zählt der 34-Jährige zu den aufregendsten Musikern der Gegenwart. Und einer Generation, die eine Zukunft mit neuen Erzählungen entwirft, indem sie auch zurückblickt.
Denn die Musik von Shabaka Hutchings zielt auch auf virulente Fragen nach der Abstammung ab. So, wie sie immer wieder gestellt werden – im Rap, im Soul, im Jazz, im Techno –, seit Kosmiker wie Sun Ra oder George Clinton in den 60er- und 70er-Jahren den afrofuturistischen Space entdeckten. Um zu zeigen: Die Aliens, die sind wir, die Nachfahren der verschleppten Sklaven. Und wir sind mitten unter euch.
Wenn Shabaka Hutchings im Gespräch über seine «ancestors», seine Vorfahren spricht, betont er nicht das Alienhafte, sondern er stellt offene Fragen. «Mit was definiere ich überhaupt meine Herkunft?», sagt Hutchings mit seiner tiefen und sanften Stimme, die man fast nicht mit dem muskulösen Instrumentalisten, der er auf der Bühne ist, zusammenbringt. «Ist es meine Blutsverwandtschaft? Oder hängt sie mit der Idee der Community zusammen, als deren Teil du dich fühlst?»
Er sei als Person, die nach der Geburt in England auf Barbados aufgewachsen ist, in einer merkwürdigen Position, wenn es um dieses Thema gehe. «Wir alle wissen gemäss dem Mythos ja nur, dass wir aus Afrika kommen», erzählt Hutchings, der als 16-Jähriger nach London gezogen ist. Es fehlen schlicht die Papiere, die etwas beweisen würden, deshalb könne er den Stammbaum seiner Familie nur um drei Generationen zurückverfolgen, zurück bis zu seiner Urgrossmutter, die er im neuen Track «My Queen Is Ada Eastman» zur Königin adelt.
Shabaka Hutchings interessiert jener Raum, in dem sich der persönliche Weltbezug und die Autobiografie mit dem Mythischen treffen. Was das musikalisch alles bedeutet, hört man etwa auf seinem Album «The Observer», das er mit südafrikanischen Musikern eingespielt hat und schon fast nach einer klassischen Jazzproduktion klingt. Oder mit seiner zweiten Band The Comet Is Coming, die am Festivalschlusskonzert in Utrecht lauter und mächtiger als die wenigen Rockbands im Programm klang.
Was auch damit zusammenhängt, dass Shabaka Hutchings die Power, das Intensive bevorzugt: «Ich mag keine Musik, die im mittleren Bereich herumdümpelt. Es ist die Zeit in meinem Leben, um laut zu spielen.» Diese Musik ist so laut, dass die Klarinette, die er klassisch studierte – ein Studium, das ihm nach dem kulturschockartigen Umzug nach London als Rückzugsort diente –, derzeit kaum Platz findet. «Aber auch das Stille kann intensiv wirken. Vielleicht ist das Laute bald erschöpft, und wir brauchen etwas, das uns beruhigt.»
Im Gespräch mit Shabaka Hutchings, der seine Antworten unterbricht und nochmals neu anhebt, sobald er von vorbeistöckelnden Hotelgästen gestört wird, hängt aber auch ein Vierbuchstabenwort im Raum, mit dessen hypeartigem Revival sein Name in Verbindung gebracht wird: Jazz. «Your Queen Is a Reptile» ist bei Impulse! erschienen – dort, wo John Coltrane, Charles Mingus oder Pharoah Sanders Platten veröffentlicht haben.
Seine Karriere startete erals «working musician»
Trotz dieser Ahnengalerie: Hutchings will das Jazzetikett nicht hochleben lassen, auch wenn er es nicht ablehnt. «Es zeugt aber von einer faulen Einstellung gegenüber Begriffen im Generellen», sagt Shabaka Hutchings. «Denn die Sprache sollte etwas sein, das sich entwickelt.» Und wer heute Jazz als Wort braucht, muss darüber nachdenken, was es in der Gegenwart bedeuten kann. Und sollte nicht jene Vorstellungen bemühen, die man vor hundert Jahren hatte.
«Wenn Jazz etwas ist, das uns als Musiker begrenzt, dann müssen wir diesen Begriff loswerden. Wenn Jazz aber etwas definiert, das etwas möglich macht, etwas wachsen lässt, dann ist es grossartig.» Das Problem sei ja auch, dass viele Leute Jazz historisch so klar umreissen; es sei ja auch nicht gesichert, ob Jazz überhaupt in den USA erfunden wurde: «Sie sagen dann, Jazz startete hier, 1920, was auch immer, und hier ist es zu Ende. Aber so funktioniert das nun mal nicht.»
Wie ein Musiker heute funktionieren kann, vielleicht auch muss, zeigt seine Karriere, die Shabaka Hutchings als «working musician» begonnen hat. Zunächst spielte er überall: in Free-Jazz-Formationen, in klassischen Orchestern, in Musicals, mit elektronischen Produzenten und Londons Impro-Szene.
«Beim Musikmachen machen geht es aber immer ums Leutetreffen, ums Kommunizieren.»
Musik war schlicht sein Job, so, wie er das von Calypso-Musikern auf Barbados lernte, die nicht einfach sagen konnten, oh, heute habe ich keine Lust, die Leute zum Tanzen zu bringen. Bis er in den letzten fünf Jahren selber zum Künstler wurde, der nun seine Visionen umsetzen kann und auch mal verletzlich sein kann. «Beim Musikmachen machen geht es aber immer ums Leutetreffen, ums Kommunizieren», sagt Shabaka Hutchings.
Um was es ihm auch geht, ist bei seinen Konzerten zu spüren, zumal dann, wenn er mit den Sons of Kemet auftritt: Es geht um ein Aufgehen in einer tanzenden Community, um das einladende Gefühl einer Gemeinschaft. Ganz ohne «Now or never»-Befehl.
Sons of Kemet: «Your Queen Is a Reptile» (Impulse!/Universal). Konzerte: Sons of Kemet, 16. November, Palace, St. Gallen; Shabaka Hutchings solo, 30. November, Festival Unerhört, Rote Fabrik, Zürich.
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