Herzenswunsch von KZ-Häftling wird erfüllt
Vor siebzig Jahren führte eine Gruppe von KZ-Häftlingen Verdis Requiem auf. Nun widmet das Prager Symphonieorchester der ausserordentlichen künstlerischen Leistung eine eigene Vorstellung.
Sieben Jahrzehnte nach den Judenmorden im KZ Theresienstadt in Tschechien führt das Prager Symphonieorchester eine Sondervorstellung auf. Unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Murry Sidlin singt ein Chor aus 150 Personen Giuseppe Verdis Requiem. Gewidmet ist die Vorführung Rafael Schächter, einem KZ-Häftling, der während seiner Inhaftierung mit anderen Gefangenen Verdis Totenmesse unter schwersten Bedingungen einstudiert hatte.
Rafael Schächter war ein junger jüdischer Pianist und Dirigent, Musiker mit Leib und Seele. Und er war einer von Zehntausenden Menschen im Sammel- und Durchgangslager Theresienstadt (Terezin) in der damals von Deutschland besetzten Tschechoslowakei, die am Ende von den Nazis ermordet wurden. Aber bevor Schächter 1945 in Auschwitz sein Leben verlor, bewirkte er eine Art Wunder im Holocaust. Der junge Mann versammelte im KZ Theresienstadt Hunderte hungernder und kranker Sänger um sich und führte mit ihnen 16-mal eines der mächtigsten und bewegendsten Werke der religiösen Musik auf: Giuseppe Verdis Requiem. Die Gefangenen lernten das Werk auswendig, anhand eines einzelnen Noten- und Textexemplars.
Therapie gegen die Angst
«Diese verrückten Juden singen ihr eigenes Requiem», sagte Adolf Eichmann, der sich eine dieser Darbietungen anhörte, laut Ohrenzeugen. Aber für Schächter und seine Mitgefangenen war die Aufführung dieser Messe für die Toten keine Kapitulation vor dem eigenen Schicksal, keine Unterwerfung. Es war vielmehr ein Akt des Widerstandes gegen die Nazis – und eine Therapie gegen die immer grösser werdende eigene Angst. So sagte Schächter denn auch seinem Chor: «Was wir hier tun, ist nur eine Probe für später, wenn wir Verdi in einer grossen Konzerthalle in Prag aufführen, in Freiheit.» In diesem Juni war es schliesslich so weit. In der St.-Vitus-Kathedrale in Prag, der Hauptstadt des heutigen Tschechien, wurde die römisch-katholische Messe aufgeführt, zum Gedenken an diesen aussergewöhnlichen jüdischen Mann, sein damaliges «Ensemble» und andere begabte Musiker und Künstler, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden.
«Rafael konnte es nicht selbst tun, so führen wir das Requiem heute Nacht in seinem Namen auf», sagte der amerikanische Dirigent Murry Sidlin. Er hat es sich nach eigenen Angaben zu seinem Lebensziel gemacht, der Öffentlichkeit das Vermächtnis von Terezin nahezubringen. Auf Schächters Geschichte stiess er zufällig. Er blätterte in einem US-Laden in einem Buch über das Requiem und fand eine kurze Passage über die 16 Aufführungen eines 150-köpfigen Chores im KZ Theresienstadt. «Ich dachte mir, so etwas gibt es nicht, denn ich weiss, was es bedeutet, das Requiem unter normalen Bedingungen zu produzieren. Wenn da etwas dran ist, ist es ein Wunder.» Und so setzte sich denn der heute 73-jährige Sidlin mit Holocaust-Experten in Verbindung. Er fand wenig heraus, bis er Überlebende unter den damaligen Gefangenen aufspürte. Dann fiel alles an seinen Platz. Er sei eines Morgens, um vier Uhr, aufgewacht, von einem bestimmten Gedanken beseelt aus dem Bett gesprungen und habe sich den Text von Verdis Meisterstück gezielt angeschaut.
Botschaft des Widerstands
«Ich erkannte, dass fast jede Zeile der Totenmesse für einen Gefangenen eine andere Bedeutung haben konnte», schilderte Sidlin. So hätten Schächter und der Chor etwa bei der Passage über eine unausweichliche Bestrafung die Nazis gemeint und mit Erlösung eine Befreiung. Überlebende hätten bestätigt, dass die Aufführungen eine Botschaft gewesen seien. «Schächter sagte seinem Chor: Wir werden den Nazis vorsingen, was wir nicht sagen können. Das war ihr Weg, sich zu wehren, ihre Form von Widerstand, Trotz», so Sidlin. 2008 rief er eine Stiftung ins Leben, die das Rafael-Schächter-Institut für Künste und Geisteswissenschaften in Terezin einschliesst. Sidlin, zurzeit Musikprofessor an der Katholischen Universität in Washington, hat ausserdem Aufführungen des Requiems in den USA, Ungarn, Israel und Terezin geleitet, im nächsten Jahr ist Berlin an der Reihe.
Aber an diesem Abend in Prag könnte Schächters Vermächtnis nicht spürbarer sein. Das Prager Symphonieorchester spielt, 150 Sänger sind dabei, Sidlin dirigiert – alle tragen schwarz. Kann man sich der emotionalen Macht des Requiems auch so kaum entziehen, ist diese Aufführung überwältigend. Ins Orchester integrierte Schauspieler erheben sich, sprechen Schächters Worte, erinnern daran, wie dieser Mann und seine Mitgefangenen es nicht zuliessen, dass die Nazis sie entmenschlichen. Ein Klavier ersetzt kurz das Orchester, in Erinnerung daran, wie Schächter seinen Chor begleitete. Es werden Ausschnitte aus einem Nazi-Propagandafilm gezeigt, in dem Theresienstadt als so etwas wie ein Badeort für Juden präsentiert wurde. Die Zuschauer in der Kathedrale schweigen, Tränen laufen. Felix Kolmer ist da, der Schächter in Theresienstadt kennen lernte und ihn zuletzt in Auschwitz sah. Sie beide wurden bei der Ankunft getrennt, es gab zwei verschiedene Reihen – eine davon für sofort zum Tod bestimmte Gefangene. Schächter wurde dieser Reihe zugewiesen, er war 39 Jahre alt.
Kolmer überlebte. Er und Schächter gehörten zu den ersten von etwa 140'000 Menschen, die nach Theresienstadt geschickt wurden. Unter den Gefangenen waren viele der grössten jüdischen künstlerischen Talente. So entwickelte sich in dem Lager ein unglaubliches künstlerisches Leben, unter unsäglichen Bedingungen, erfüllt mit Angst. Überlebende aus Schächters Chor erzählen, dass sie nach langen Stunden von Zwangsarbeit in einem dunklen Keller probten – um dann oben, nach der Treppe, über die Leichen von Mitgefangenen zu steigen, die während des Tages an Hunger und Krankheit gestorben waren. «Was Rafi ... tat, hat uns gestärkt», sagt der heute 91-jährige Kolmer. «Das kulturelle Leben, zu dem er gehörte, hat uns die Kraft gegeben, uns besser unserem eigenen Schicksal zu widersetzen – nicht nur in Terezin, sondern auch später in Auschwitz, sodass wir nicht in die Gaskammern gegangen sind wie Schafe zur Schlachtbank.» Marianka May, die in Schächters Chor mitsang und den Holocaust überlebte, beschreibt es so: «Wir selbst wurden diese Musik.»
SDA/lvm
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