Hier ist ein Tag so schädlich wie 42 gerauchte Zigaretten
Die Luftverschmutzung in Indien ist extrem. Die Not zwingt die Behörden zu ersten ernsthaften Umweltschutzmassnahmen.
In Delhis Mittelklassehaushalten stehen neuerdings kleine Raumschiffe herum – schick designte Luftfilter, die gegen den Smog ansummen. Auf den Kommoden daneben zeigen Messgeräte die aktuellen Feinstaubwerte an: nur noch 324 Mikrogramm pro Kubikmeter! Wenig später sind es nur noch 283.
Die Gesundheitsrisiken schmutziger Luft sind ein Thema in Indiens Bevölkerung. Mal wird vorgerechnet, ein Tag in Delhi entspreche 42 gerauchten Zigaretten. Und zwei Stunden Lebenszeit soll er kosten, dieser Tag in der staubigen Metropole. Wer es sich leisten kann, schafft für umgerechnet einige Hundert Franken eines dieser Filtergeräte an.
Zwischendurch dreht auch mal der Wind, und die dicke Luft verzieht sich für ein Weilchen. Für den in Indien gebräuchlichen Air Quality Index (AQI) werden verschiedene Feinstaub- und Abgasmessungen verrechnet und in einen anschaulichen Wert gepackt. Unterhalb der Marke 400 gilt nicht mehr die Kategorie «severe», also schlimm, sondern nur noch «very poor». Sehr schlecht. Wobei die Kategorien stark den örtlichen Gegebenheiten angepasst sind, wie beispielsweise der PM10-Feinstaubwert zeigt: Ein Messergebnis über 150 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft fällt im vergleichbaren europäischen Index bereits in die Kategorie «sehr schlecht». In Indien reicht das für ein «moderat».
Das Wetter ändert sich schnell
In der ersten Novemberhälfte jedoch war jeder Gang zum Gemüseladen oder zur U-Bahn eine Tortur: Die Luft roch faulig, die Augen brannten, die Lunge wehrte sich mit Hustenreiz gegen den Feinstaub; nach einer Viertelstunde Fussmarsch machte sich ein flaues Gefühl im Magen bemerkbar. Viele Menschen gingen nur noch mit Atemmasken oder Tüchern vor dem Gesicht aus dem Haus. Die darauf folgende Atempause tat gut – nur wird sie nicht von Dauer sein. Das Wetter kann sich schnell wieder ändern – und die Smogsaison in Delhi hält den ganzen Winter an.
Mehrere Faktoren führen in dieser Zeit zu einem ungesunden Mix. Die Bauern in den Staaten Haryana und Punjab fackeln jeden Herbst Reisstroh und Stoppelfelder ab. Höhenwinde aus nordwestlicher Richtung tragen den Qualm nach Delhi und in benachbarte Städte wie Noida oder Ghaziabad. Auch eine Portion Wüstenstaub haben sie im Gepäck, wenn sie über der Hauptstadtregion auf feuchte Luft aus östlicher Richtung stossen. Die mit Wassertröpfchen vermengten Schmutzpartikel sacken dann in tiefere Luftschichten ab, wo in der kühleren Jahreszeit typischerweise kaum Wind geht, der die Eindringlinge aus den Strassen Delhis pusten könnte.
Nur zehn Prozent der Kraftwerke in Indien nutzen Partikelfilter.
Ein grosser Teil der Luftverschmutzung ist zudem hausgemacht. Wie in ganz Indien stillen auch in der Metropolregion schmutzige Kohlekraftwerke den wachsenden Energiehunger, teilweise mit giftigem Petrolkoks. Nur zehn Prozent der Kraftwerke in Indien nutzen laut einem aktuellen Bericht der Umweltorganisation Greenpeace irgendeine Art von Filtertechnik.
Auch wirbelt Staub von Strassen und Baustellen durch die Luft. Und die vielen Holzfeuer zum Kochen und bei kälteren Temperaturen auch zum Heizen sowie der in abgelegenen Ecken verbrannte Müll produzieren zusammen mächtig viel Rauch. Zudem sind die Strassen Delhis völlig überlastet. Nachts donnern uralte Diesellastwagen durch die Stadt, tagsüber drängeln immer mehr Autos hupend durch den Stau.
So hässlich das Problem ist – der Smog in der Hauptstadt kann auch eine Chance sein. Noch schieben sich die Politiker zwar alle gegenseitig die Schuld zu. Noch werden, so wie in der jüngsten Smogwoche, bei alarmierend schlechter Luftqualität spontan Schulen geschlossen, Bauverbote erteilt, Lastwagen aus der Stadt verbannt und Parkgebühren vervierfacht. Auch abwechselnde Fahrverbote für Autos mit geraden und ungeraden Nummernschildern werden immer wieder diskutiert – alles Notfallmassnahmen statt langfristiger Planung.
Bürger haben Luftpest satt
In der Erntesaison schimpft man auf die Bauern und ihre qualmenden Felder. Noch geht der Vorsitzende der Kommission für Umweltverschmutzung allmorgendlich im Stadtpark joggen und turnt vor, dass alles halb so wild sei. Noch immer fährt nur ein Bruchteil der längst geplanten Busse durch die Hauptstadt, um den Verkehr zu entlasten. Geduld ist zwar eine Tugend, mit der die meisten Inder reichlich gesegnet sind. Doch nach etlichen Wintern voll stinkender Luft und dem Smog-Rekordjahr 2016 haben es die Bürger Delhis langsam satt.
Dreckige Luft atmen alle. So trifft Smog alle, Arme und Reiche.
Bei der Luftverschmutzung gibt es einen wichtigen Unterschied zu den vielen anderen Umweltproblemen Indiens: Luftfilter hin oder her, der Smog betrifft alle Gesellschaftsschichten, von arm bis reich. Giftiges Trinkwasser, stinkende Flüsse, zugemüllte Gassen, eingeatmete Pestizide – üblicherweise sind es die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, welche die indischen (und auch die westlichen) Industriesünden ausbaden müssen.
Doch dreckige Luft atmen alle. Die Filter erwischen nur einen Teil der Giftstoffe. Und der Wind schert sich nun mal nicht um Mietpreise und Wohngegenden. Besonders peinlich für die Stadtregierung: Einige ausländische Diplomaten sind bereits vor dem Smog aus Delhi geflohen.
Sobald ein Problem auch die Wohlhabenden und Mächtigen betrifft, stehen in Indien die Chancen für eine Lösung besser. Die vom obersten Gericht des Landes eingesetzte Environment Pollution Authority erteilte der Stadtregierung kürzlich einen Rüffel: Die gegenseitigen Schuldzuweisungen müssten aufhören, es sei Zeit zu handeln. Etwa beim Busverkehr, dessen Ausbau durch einen Streit um Parkflächen für die Busse verhindert wird.
Smog als Chance für andere Umweltprobleme
Die Zentralregierung hat nun einen Plan aufgesetzt, der vorsieht, Bauern Reisstroh abzukaufen und dieses in Kraftwerken statt auf den Feldern zu verfeuern. Und seit dem vergangenen Jahr bestehen nun immerhin ein Frühwarnsystem und ein Handlungsprotokoll für die Phasen der Smog-Spitzenwerte. Die Umsetzung dieses Graded Response Action Plan (Grap) hat bislang zwar nicht reibungslos funktioniert. Doch das indische Institut für tropische Meteorologie in Pune schätzt, dass die eilig getroffenen Massnahmen die Verschmutzungswerte immerhin um 15 Prozent reduziert haben.
Die Tatsache, dass der Erzrivale und das ewige Vorbild China seine Luftqualität in den vergangenen Jahren deutlich verbessern konnte, bleibt den indischen Wählern nicht verborgen. Doch ihre Marutis und Tatas, ihre Audi-SUVs und BMW-Limousinen werden sich die Delhianer nicht verbieten lassen, solange die Regierung kein halbwegs funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz bietet.
Möglicherweise entwickelt sich mit der dicken Luft ja sogar ein Bewusstsein für andere Umweltprobleme – und für die eigene Mitschuld daran. Und vielleicht schweisst der Kampf gegen den Smog die Menschen in Nordindien etwas zusammen, die ganz oben und die ganz unten. Sie alle haben den gleichen Wunsch nach sauberer Luft.
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