Secondhand-Trend in ZürichHier shoppt man mit gutem Gewissen
Mode aus zweiter Hand ist gerade jetzt sehr beliebt. Warum der Boom? Ein Streifzug durch die Stadt auf der Suche nach Erklärungen und Tipps für die nächste Shopping-Tour.

Vor dem Secondhandladen Caritas Gold steht bereits zehn Minuten vor der Öffnung eine ältere Frau, dick eingepackt wegen des Schneetreibens, und schaut sich die Schaufenster an. Drinnen sieht man die Inneneinrichtung, die nahezu vollständig aus Pappkarton besteht – sogar das Sofa! – sowie einige grüne Zimmerpflanzen. Sie komme immer mal wieder vorbeischauen, sagt die Frau vor dem Schaufenster, «weil es hier hochwertige Kleidung für wenig Geld gibt». Als ihr eine der Verkäuferinnen die Tür öffnet, tritt sie ein, die beiden begrüssen sich warm. Die Kundin streichelt Echt- und Kunstfellkragen in Braun und Grau und erkundigt sich nach dem Material.
Nicht alle strömen aus Nachhaltigkeitsgründen in die Secondhandläden. Die Caritas-Gold-Kundin gehört zu einer Gruppe von Secondhand-Shoppern, die möglichst hochwertige Artikel zu einem tiefen Preis ergattern wollen. Dass diese Gruppe stetig wächst, zeigt eine Studie der Boston Consulting Group und der Secondhand-Plattform Vestiaire Collective.
Eine Caritas-Street ist entstanden
Das Geschäft Caritas Gold hat vor allem auffällige Stücke zu bieten, die jedes Outfit aufwerten. Vom Gürtel bis zum Glitzerkleid – alles, was hier hängt, wurde dem Laden gespendet. Der Gewinn, den das Hilfswerk mit dem Verkauf erzielt, geht an Leute mit wenig Geld.
Besonders während des Lockdowns begannen viele Schweizerinnen und Schweizer ihr Konsumverhalten zu hinterfragen und spendeten oder verkauften Kleidung. «Viele Menschen haben ausgemistet», sagt Françoise Tsoungui, die für die Caritas-Filialen in Zürich zuständig ist.

Seit Anfang Oktober ist die Birmensdorferstrasse im Kreis 3 zur Caritas-Street geworden. Gleich drei Secondhandläden des Hilfswerks gibt es hier in nächster Nähe zueinander: den geräumigen «Flagshipstore» – wie man ihn bei Caritas nennt – eine auf Kinderkleidung spezialisierte Filiale und den Caritas Gold, der Markenkleidung zu einem Preis ab 60 Franken verkauft. «Wenn man gleich drei Läden nebeneinander betreibt, muss man der Kundschaft zur Orientierung zeigen können, was das Angebot der Läden voneinander unterscheidet. Deshalb haben wir die Ware jetzt aufgeteilt und die teureren Markenprodukte im Caritas Gold untergebracht», sagt Tsoungui.
Der Secondhandladen wirkt clean und modern
Im Caritas-Flagshipstore ein paar Häuser weiter werden Produkte zu sehr tiefen Preisen angeboten. Das Sortiment reicht von Kleidern über Outdoormode bis hin zu Accessoires. Mehrheitlich kommt die Kleidung aus dem H&M, dem C&A oder von anderen Fast-Retailers.
Der Secondhandladen des Hilfswerks wirkt modern und clean – nicht wie ein Brocki mit Kleidungsstücken, in denen vermutlich die eine oder andere Grossmutter gestorben ist. Hell und weitläufig, wie die Verkaufsfläche ist, fühlt man sich fast wie in einer Boutique – nur dass man hier einen Bruchteil des Preises hochwertiger Neuware bezahlt. Im Schaufenster hängt, was gerade als besonders in gilt, darunter ein gemusterter Métallisé-Skianzug in Rottönen.

Nich nur Menschen mit kleinem Portemonnaie, auch Fashion-Lovers und Umweltbewusste zieht der Flagshipstore an. Seit «Friday for Future» ist besonders die Anzahl Jugendlicher im Laden stark gestiegen, so Tsoungui. Das zeigt, dass Nachhaltigkeit durchaus eine Motivation für Kleiderkauf aus zweiter Hand ist. Dass es allen voran die Jugendlichen sind, die scharenweise Secondhandläden besuchen, ist von grosser Bedeutung. Denn seit eh und je sind es die Jungen, die bei neusten Trends tonangebend sind. Françoise Tsoungui freut es, dass die Läden eine so breit gefächerte Kundschaft haben: «So verschwindet auch das Vorurteil, dass bei uns nur Armutsbetroffene einkaufen. In dieser Atmosphäre fühlen sich diejenigen, die wirklich jeden Rappen umdrehen müssen, viel wohler.»
Das schlechte Gewissen beim Einkauf von Neuware hat zur Folge, dass viele Leute vermehrt auf Secondhand umschwenken. Gemäss einer Studie des Marktforschungsunternehmens L’Observatoire Cetelem fühlen sich drei von zehn Europäerinnen und Europäern oft oder sogar immer schuldig gegenüber der Umwelt, wenn sie neue Kleidung shoppen.
«Aber die Gründe für die höheren Verkaufszahlen liegen noch anderswo», sagt Tsoungui. «Es kaufen auch viele Leute bei uns ein, weil sie seit der Pandemie merklich ärmer sind – und weil man gerade jetzt angesichts der Energiekrise um sein Geld fürchtet.»

Der New New verleiht Secondhand einen neuen Anstrich
Im Trend ist auch der Zürcher Secondhandladen New New. Seit 2013 verkauft er sorgfältig kuratierte Kleidung aus zweiter Hand und wendet die Kniffe der Grossen in der Modeindustrie an. Nachhaltigkeit und Schnäppchenjagd finden hier besonders schön zusammen. Bei einer Fashion-Show Anfang Jahr wurden bereits getragene Kleidungsstücke gestylt und an den Körpern von Models über den Laufsteg geschickt. Das verleiht der Secondhand-Mode einen ganz neuen Anstrich.
Damit reiht sich New New bei einem allgemeinen internationalen Phänomen ein: Wie der Tages-Anzeiger 2020 schreibt, sprechen Secondhandläden nicht mehr nur Armutsbetroffene und Konsumkritikerinnen an, sondern auch Fashion-Victims, die ihre Samstage in den Einkaufsstrassen verbringen. Bereits getragene Mode wird nicht mehr nur als Alternative zu Billigmode, sondern als Ergänzung verkauft und über dieselben Kanäle präsentiert wie die grossen Labels.

Die Vermarktungsstrategie trägt Früchte: Nach zehn Jahren kam zum Laden an der Rotbuchstrasse vor einigen Wochen eine Filiale an der Josefstrasse dazu. Zudem zieht auch New New eine immer vielfältigere Kundschaft an. Oft stünden inzwischen junge Männer im Laden. «Das ist eine relativ neue Entwicklung. Und wir freuen uns sehr darüber, dass auch sie jetzt Gefallen finden an nachhaltiger Mode – und anscheinend den Mut haben, sich selbst und ihren Stil auszuleben», sagt Bianca Castillo, die während des Besuchs hinter der Theke steht.
«Viele Leute kommen zu uns mit Teilen, die sogar noch die Etikette dran haben.»
Die Filiale an der Josefstrasse ist modern eingerichtet, an neonorangenen Spanngurten sind Kleiderstangen befestigt. Daran hängt, was die Verkäuferinnen mit viel Fingerspitzengefühl aus vorbeigebrachten Kleidern von Privatpersonen ausgewählt haben.

«Im New New sammeln wir seit zehn Jahren Erfahrungen. Dadurch wissen wir inzwischen, was gut läuft. Und natürlich sind wir auch modeinteressiert, deshalb haben wir ein gewisses Gespür für das, was demnächst in sein wird, für gute Schnitte und spezielle Stücke», sagt Castillo. Die Leute bringen ihre Kleidung spontan vorbei und bekommen – falls der Secondhandladen Interesse hat – einen Preis für das Kleidungsstück vorgeschlagen, den man gleich auszahlt. Innert kürzester Zeit entscheidet Bianca Castillo über das Schicksal des weissen Strickpullovers, den ihr eine Kundin zum Ankauf auf die Theke legt. Zu kurze Ärmel, aber «no hard feelings», lautet das Urteil. Der Umgang mit der Kundschaft ist im New New sehr ungezwungen und leger.
Mitunter wegen des grossen Angebots kann man bei der Auswahl relativ wählerisch sein. «Während Covid hat das Onlineshopping enorm zugenommen. Viele Leute kommen zu uns mit Teilen, die sogar noch die Etikette dran haben», sagt Castillo.
«Mag sein, dass manche ihre Schränke räumen und ihr schlechtes Gewissen beruhigen, um wieder mit Vollgas zu shoppen. Aber Hauptsache, sie machen sich Gedanken und werfen die Kleider nicht einfach weg», sagte die Leiterin der Zürcher Caritas-Secondhands, Françoise Tsoungui, gegenüber dem Tages-Anzeiger.
Neue Secondhand-Konzepte kommen auf
An der Brauerstrasse hat sich vor fünf Jahren ein weiteres Secondhand-Konzept etabliert: Der Marta-Flohmarkt vermietet Regale für circa 20 Franken am Tag an Leute, die dort ihre Kleidungsstücke und Accessoires ausstellen. Den Preis für die Ware bestimmt man selbst. Marta-Flohmarkt kümmert sich um den Verkauf, macht die Regale hübsch und betreut die Kundschaft. «So hat jede und jeder seinen eigenen kleinen Store im Store. Auch Jungdesignerinnen und Do-it-yourself-Liebhaber stellen hier manchmal ihre Ware aus. Für sie bietet Marta eine schöne Verkaufsplattform, manchmal auch eine Alternative zum eigenen Geschäft», sagt die Store-Managerin Luisa Stübner.

Die vielen unabhängigen Anbieterinnen und Anbieter sorgen für einen bunten Stilmix. Ob zeitlos und schlicht oder neuste Trends, es ist für alle etwas dabei. Neben Kleidungsstücken, Schuhen, Schmuck und Accessoires aus zweiter Hand gibt es hier auch kunterbunte selbstgemachte Perlenketten und Fingerringe.
Es wird nicht das letzte Secondhand-Konzept sein, das den Verkauf gebrauchter Ware neu denkt. Schliesslich steigt die Nachfrage weiterhin. Die neuste Entwicklung des Trends: Studien aus Deutschland und den USA besagen, dass 40 Prozent der Befragten Secondhandartikel als Weihnachtsgeschenke in Betracht ziehen. Wie unser Streifzug durch Zürich gezeigt hat, darf man sich darauf freuen. Denn Secondhand ist ein Synonym für einzigartige und einwandfreie Trouvaillen, die man guten Gewissens verschenken kann.
Fehler gefunden?Jetzt melden.