Hier werden Müllberge versetzt
Zwei Winterthurer Künstler arbeiten an einem Modell ihrer Heimatstadt – ausschliesslich aus Abfall. Ihre Kreationen haben so viel Witz, dass man den ganzen Güsel einfach mögen muss.
Meine Füsse stecken in den Baumkronen des Eschenbergs. Es fühlt sich herrlich an, dieses Kissen aus Schaumstofffetzen. Ein wenig wie Moos. «Etwa auf dieser Höhe würde sich die Kyburg befinden», sagt Ron Temperli und zeigt auf eine Stelle an der Wand gleich neben mir. «Und was ist das da links von meinen Zehen?», frage ich. «Das ist der Wildpark Bruderhaus.»
Temperli ist mein Guide durch ein raumfüllendes Wunderland, das er zusammen mit Dominik Heim aus Abfall im Dachgeschoss des Forums Architektur Winterthur aufbaut. Seit Dezember gestalten die beiden Winterthurer Künstler im Auftrag des Forums ein Modell ihrer Heimatstadt sowie der umliegenden Ortschaften, Hügel, Wälder – und verwenden dazu konsequent nur Müll. Da schmiegen sich Gebäudefassaden aus Zigarettenpäckli an eine Kurve, Geschenkbänder-Reben winden sich Hänge hinab und irgendwo in der Mitte des 8 auf 15 Meter grossen Modells steht das Kantonsspital Winterthur, gebaut aus Tablettenpackungen.
«Das ist die Chöpfi!»
Fasziniert blicke ich auf die Miniaturwelt hinab. Wie in einer Szene aus «Angriff der 20-Meter-Frau» bewege ich mich der Töss entlang. Zumindest gehe ich davon aus, dass dieser eine blaue Streifen die Töss ist – als Ortsunkundige bin ich froh um die Hilfe von Heim und Temperli. Auch Christoph von Ah vom Forum Architektur Winterthur schreitet neben mir über die Pressspanplatten, die eben noch als Ausstellungswände dienten und nun das Relief der Anlage bilden.
«Das ist die Chöpfi», ruft von Ah plötzlich, «toll gemacht. Das erkennt man wirklich sofort.» So nenne man die Sandsteinformationen am Wolfensberg bei Wülflingen, werde ich aufgeklärt. «Dort war jedes Winterthurer Kind schon auf der Schulreise.» – «Aha. Und was ist diese silberne Schachtel dort drüben?» – «Das ist das Sulzer-Hochhaus», antworten alle drei im Chor und ich meine, eine Spur von Entrüstung in ihren Stimmen zu hören.
Es gebe schon einige Dinge im Müllmodell, die nur ein Local sofort erkenne, sagt Temperli. Zum Beispiel den «Astronauten», eine Figur auf dem Dach einer Imbissbude beim Fussballstadion Schützenwiese. «Da ist er», sagt Temperli und zeigt mir einen Styroporkrümel auf einem dunkel bemalten Kartonhäuschen am Spielfeldrand. Die beiden anderen Winterthurer nicken und lächeln vielsagend.
Ein Baumstrunk aus Brot
Wir waten weiter – vorbei an Baumgruppen aus Woll- und Papierknäuel, gespickt mit Tannenwipfel aus Glas- und Plastikflaschen. «Hey, dort steht ein Baumstrunk aus trockenem Parisette-Brot.» – «Ja, Biberli hats auch, und irgendwo steckt ein Rüebli.» – «Hier sind Esswaren drin?» – «Klar! Wir wollen wirklich alles brauchen, was der Müll hergibt. Unsere einzige Regel lautet: Es darf nichts anfangen zu stinken.» Sogar die Papier- und Plastiksäcke, in denen die beiden Künstler das Material herangeschafft haben, ist Teil der Konstruktion. Und an der Vernissage vom 18. Januar sind laut Heim noch einige leer getrunkene Bierdosen hinzugekommen, die nun irgendwo in einem «Wäldchen» stehen. Einige Elemente sind rezyklierte Stücke früherer Exponate von Heim und Temperli. 2003 präsentierten sie ihr erstes gemeinsames Projekt. Seither haben sie mehrfach zusammengearbeitet. «Dieses Modell ist unser drittes. Es ist das erste in Farbe», sagt Temperli – und auch bei der Farbgebung zieht das Duo ihr Abfallkonzept durch: Sie nutzen ausnahmslos Restfarben.
Elsau hat einen Stausee
Geht die Farbe aus, gruppieren die Maler die Müllstücke farblich so, dass das Gesamtbild stimmt. Der Wald bei Elsau sei eher herbstlich, weil sie nicht mehr so viel grünes Material gehabt hätten, sagt Heim. Ich blicke in die Richtung, wo die beiden Elsau hingepflanzt haben, und staune nicht nur über das rot gefärbte «Laub», sondern vor allem über ein Konstrukt hinter dem Weiler. «Ich wusste gar nicht, dass es dort in der Gegend einen Stausee hat?» – «Es gibt auch keinen. Wir haben die Eulach gestaut, weil wir zu viel blauen Abfall hatten.»
Dass es die beiden Künstler mit der Realität nicht so genau nehmen, ist beabsichtigt. Denn die Installation ist auch als Denkanstoss für eine mögliche Entwicklung der Region Winterthur zu verstehen. So haben Heim und Temperli beispielsweise neben dem Elsauer Stausee auch die Idee des Bildhauers Erwin Schatzmann wieder aufgenommen, bei Winterthur einen künstlichen See anzulegen.
Das Modell ist Teil der Forums-Reihe «Stadtwerkstatt», bei der die Teilnehmer ihre Ideen zur weiteren Planung Winterthurs einbringen können. Das Forum beteiligt sich laut Christoph von Ah mit den Stadtwerkstätten an der Testplanung «Räumliche Entwicklungsperspektive Winterthur 2040», welche die Stadt derzeit durchführt: «Wir wollen diesen Prozess mit den Ergebnissen unserer Werkstätten bereichern.» Die Modelllandschaft von Heim und Temperli solle dabei Diskussionen auslösen und Raum für neue Interpretationen bieten.
Ewig weiterbasteln
Wie die Stadt Winterthur selbst ist auch das Modell aus Müll nicht fertiggebaut. Das Thema Fahrzeuge sei beispielsweise noch ganz ausgeklammert, sagt Temperli. Derzeit befinden sich nur auf der Römerstrasse in Oberwinterthur Autos in Form von silbrig bemalten Erdnüssen – eine Strasse notabene, die zu einer Begegnungszone hätte abklassiert werden sollen. Gut möglich, dass es nicht bei diesem politischen Statement bleibt, denn das Projekt ist erst im Herbst abgeschlossen. «Aber eigentlich könnten wir ewig daran basteln», sagt Heim.
Und eigentlich wäre es schön, wenn sie das tatsächlich täten. Denn die Installation mit ihren fast schon psychedelischen Farben und kreativen Skulpturen wickelt einen regelrecht um den Finger. Ich als Auswärtige habe jedenfalls nach meinem Spaziergang durch diese Wunderwelt grosse Lust, die reale Region Winterthur besser kennen zu lernen.
Bis zum Abschluss der Stadtwerkstätten ist das Modell an der Zürcherstrasse 43nur bei einer aktiven Teilnahme der Veranstaltungen zu besichtigen. Weitere Informationen und Anmeldung unter www.forum-architektur.ch
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