«Highway des Grauens»
Vierfachmörder Thomas N. erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschliessender Verwahrung. Für die Hinterbliebenen bleiben viele Fragen offen.

Sie können nicht mehr schlafen. Sie können nicht mehr essen. Sie verlassen das Haus nicht mehr. Sind antriebslos, gebrochen, für immer. Sie – das sind die Hinterbliebenen der vier Menschen, die Thomas N. am 21. Dezember 2015 brutal ermordete. Es sind Mütter und Väter, Schwestern und Brüder, Grossmütter und Grossväter. Es sind Lebenspartner, Halbschwestern, Stiefväter. Die körperlich noch am Leben sind, innerlich aber gestorben. Opfer auch sie.
Die Frage nach dem Warum hat der Gerichtsprozess im Fall Rupperswil nicht zu beantworten vermocht. Auch wenn sie für die Hinterbliebenen die wichtigste aller Fragen ist. Ein Teil der Angehörigen ist dem Prozess ferngeblieben, weil ihnen die Kraft fehlt, in einem Raum mit dem Täter zu sein. Andere nehmen teil in der Hoffnung, die Ereignisse so eher verarbeiten zu können. Auch jetzt sitzen sie ganz vorne im Saal, ein paar Meter entfernt vom Mann, der ihnen nahm, was sie so sehr liebten.
Video: Was ein Hinterbliebener zum Urteil sagt
Der Lebenspartner der getöteten Mutter äusserte sich nach dem Prozess. Video: Tamedia
Er – das ist der nette Nachbar, der freundliche Fussballtrainer, der höfliche Hundebesitzer. Der nach 146 Tagen Ermittlung verhaftet wurde und noch am selben Tag zugab, eines der schlimmsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte verübt zu haben. Er steht auf und schliesst die Augen für die Urteilsverkündung. Die Hände hat der 34-Jährige ineinander verschränkt.
Das Urteil selbst hat Gerichtspräsident Daniel Aeschbach rasch verlesen: Das Gericht spricht den bis zum Vierfachmord unbescholtenen Schweizer in allen Punkten schuldig. Es verurteilt ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschliessender Verwahrung. Gleichzeitig verordnet es eine ambulante Therapie. Diese soll parallel zum Strafvollzug im Gefängnis stattfinden. Zudem muss Thomas N. den Familien der Opfer 736'000 Franken Genugtuung zahlen sowie Gerichts- und Untersuchungskosten von über einer halben Million Franken übernehmen.
Nun begründet Aeschbach den Schuldspruch: Thomas N. nimmt auf seine Anweisung Platz und schliesst erneut die Augen. «Der Beschuldigte hatte ein Konstrukt», sagt Aeschbach. «Er ist geduldig gewesen, bis er es startete.» Es sei gewesen, als ob sich N. in ein Auto gesetzt habe, dessen Bremsen er zuvor entfernt hatte. «Dann schaltete er den Autopiloten ein und begab sich auf den Highway des Grauens. Dort beschleunigte er von null auf Tausend.»
«Keine Bremsen am Fahrzeug»
Thomas N. habe sich mit einer List heimtückisch das Vertrauen der Opferfamilie erschlichen, um dann «zielstrebig, kaltblütig und grausam» zu töten. Er habe «krass egoistisch» und «empathiefrei» gehandelt. «Die Opfer wurden vom Beschuldigten regelrecht geschächtet», sagt Aeschbach. «Er hätte mehrfach die Gelegenheit gehabt, den Plan zu ändern, doch das liess sein Konstrukt nicht zu. Er hatte ja keine Bremsen am Fahrzeug.»
Das Bezirksgericht hält Thomas N. trotz der Grausamkeit des Verbrechens für grundsätzlich therapierbar. Es stützt sich dabei auf die zwei Gutachten der Psychiater Elmar Habermeyer und Josef Sachs, die in ihrer Karriere je rund 1000 Gutachten erstellt haben. Die beiden haben bei N. unabhängig voneinander eine Kernpädophilie diagnostiziert. Diese Störung der Sexualpräferenz sei nicht heilbar, man könne aber lernen, mit ihr umzugehen. Laut Gerichtspräsident Aeschbach soll der Täter insbesondere diese Störung «therapeutisch aufarbeiten». Zudem liege bei Thomas N. eine Persönlichkeitsstörung vor, die je nach Gutachter als «narzisstisch» oder «zwanghaft» beschrieben werde. Eine Therapie dürfte aus ihrer Sicht zwar langwierig und schwierig sein – aber eben nicht unmöglich.
Die ordentliche Verwahrung sprechen die zwei Richterinnen und drei Richter aus, weil aus ihrer Sicht alle Voraussetzungen dafür erfüllt sind: Thomas N. habe mehrere sehr schwere Delikte begangen, es bestehe eine hohe Rückfallgefahr, und er habe anhaltende psychische Störungen.
Dazu komme, dass eine stationäre Therapie nicht angezeigt sei – weil sie innerhalb von fünf Jahren keinen Erfolg verspreche. Beide Psychiater haben vor Gericht betont, dass es bei Thomas N. deutlich länger brauche, bis sich – wenn überhaupt – ein Erfolg zeige.
Gerichtsreporter Thomas Hasler über das Urteil zum Rupperswil-Prozess. Video: Tamedia
Warum aber hat das Gericht den Vierfachmörder nicht lebenslänglich verwahrt? Weil eine wichtige Voraussetzung dafür fehle, sagt Aeschbach. Die Psychiater hätten unmissverständlich dargelegt, dass der Täter nicht für immer untherapierbar sei. Zwei solche Aussagen bräuchte es aber, um die härteste aller Massnahmen im Schweizer Strafrecht aussprechen zu können.
Eine Minderheit des Gerichts sah es anders: Sie hätten eine lebenslängliche Verwahrung angeordnet. Damit wären sie der Auffassung von Staatsanwältin Barbara Loppacher gefolgt, wonach die Tötung aller vier Opfer nicht auf eine psychische Störung zurückzuführen sei. Entsprechend bestehe auch kein Anlass für eine Therapie.
Die Mehrheit des Gerichts hält es für «unstatthaft, die einzelnen Taten zu zerpflücken». Die Voraussetzungen für eine lebenslängliche Verwahrung seien «konstruiert».
Inzwischen hat Thomas N. seine Augen geöffnet. Er hält seinen Kopf auf die verschränkten Hände gestützt, den Blick nach unten gerichtet. Als der Gerichtspräsident Aussagen seiner Verteidigerin kritisiert, bleibt er äusserlich regungslos: «Es geht nicht an, dass man versucht, den Opfern die Schuld in die Schuhe zu schieben», sagt Aeschbach. «Das erscheint geradezu «bizarr» und «grotesk».
Angehörige sind «erleichtert»
Als der Gerichtspräsident die Urteilsverkündung nach gut einer halben Stunde mit vier Hammerschlägen beendet, bestürmen die Journalisten die Verteidigerin: «Ich habe nur meinen Job gemacht», sagt Renate Senn. Das Urteil sei «hart». Besonders die Verwahrung sei für ihren Mandanten «schwer nachvollziehbar». Doch er sei froh, eine ambulante, vollzugsbegleitende Massnahme erhalten zu haben.
Mit dem Urteil zufrieden ist Staatsanwältin Loppacher: «Ich bin davon überzeugt, dass er sehr gefährlich ist. Daran wird auch eine ambulante Behandlung nichts ändern.» Die ausgesprochene Verwahrung sei der «richtige Entscheid». Sowohl Senn als auch Loppacher wollen über einen allfälligen Weiterzug erst nach Eintreffen des schriftlichen Urteils entscheiden.
Und die Angehörigen der Opfer? Sie seien erleichtert über das Urteil, sagen ihre Anwälte. Jetzt müssten sie mit dem Verlust ihrer Liebsten leben lernen, irgendwie. «Die Belastung wird ein Leben lang bleiben», sagt Anwalt Luc Humbel. «Ich wünsche ihnen, dass sie die Kraft, die sie diese Woche gezeigt haben, weiterhin haben werden.»
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