Hitzige Debatte nach dem Schock von Stuttgart
Christian Gentner wird im Strafraum von Wolfsburgs Goalie ausgeknockt, bleibt minutenlang liegen. Warum wurde nicht einmal auf Foul entschieden?
Bange Minuten in der Mercedes-Benz-Arena in Stuttgart. Nicht, weil das Heimteam fünf Minuten vor Schluss knapp mit 1:0 führt und irgendwie versucht den Vorsprung über die Zeit zu retten. In Momenten wie diesen verkommt der Fussball und jedes Resultat zur Nebensächlichkeit. Stuttgart-Captain Christian Gentner liegt nach einem Zusammenprall mit Koen Casteels bewusstlos am Boden, der Wolfsburg-Goalie hatte ihn mit dem Knie im Gesicht getroffen.
Teamarzt verhindert Schlimmeres
Hannes Wolf, Trainer des VfB Stuttgart, sagte nach der Partie: «Das waren dramatische Momente, wir hatten Riesenangst, dass was passiert ist, was bleibende Schäden hinterlassen könnte.» Und Sportvorstand Michael Reschke ergänzte: «Wenn unser Arzt nicht so schnell reagiert hätte ...» Tatsächlich verhinderte Raymond Best mit seinem sofortigen Eingreifen Schlimmeres. Der Teamarzt von Stuttgart holte Gentner, der mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Rasen lag, die Zunge aus dem Hals.
Die gute Nachricht nach dem Schockmoment: Gentner wird wieder völlig gesund. Die Schlechte: Brüche des unteren und seitlichen Augenhöhlenbodens, des Nasenbeins und des Oberkiefers. Eine Operation und eine lange Pause sind notwendig. «Es ist eine sehr bittere Nachricht sowohl für ihn und seine Familie als auch für uns», sagte Reschke. Unter Druck setzen will er seinen Leistungsträger aber nicht: «Christian soll jetzt erst mal in aller Ruhe gesund werden.»
Doppelt bitter für Stuttgart: Die verbleibenden Minuten mussten sie mit einem Mann weniger spielen, weil Wolf sein Wechselkontingent ausgeschöpft hatte. Obwohl es dennoch zum 1:0-Sieg reichte, empörten sich viele Experten anhand der Entscheidung des Schiedsrichters, beim Zusammenprall nicht auf Foul des bereits gelbvorbelasteten Casteels zu entscheiden. Sky-Schiedsrichterexperte Markus Merk sagte: «Das war grob fahrlässig von Casteels. Ein klares Foul und im Minimum eine Gelbe Karte.» Also Penalty und Platzverweis. Mit Gerechtigkeit argumentierte auch der aktuell arbeitslose Trainer Armin Veh in der Sendung «Doppelpass»: «Stuttgart wurde gleich doppelt bestraft. Sie verlieren ihren Captain und müssen zu zehnt fertig spielen. Es kann doch nicht sein, dass Wolfsburg für dieses Einsteigen noch belohnt wird.»
Grundsatzdebatte?
Bis auf «Zeit»-Journalistin Cathrin Gilbert schien sich die Runde, unter anderem mit dem ehemaligen Schiedsrichter Bernd Heynemann und «Bild»-Chefkolumnist Alfred Draxler einig, dass Casteels' Knie auf dieser Höhe nichts zu suchen habe. Verzweifelt versuchte Gilbert eine Grundsatzdebatte über die allgemeine Regelauslegung anzureissen, dass ein Torwart so in einen Zweikampf gehen darf – was allerdings weitgehend ungehört blieb.
Casteels selber zeigte sich nach Spielschluss betroffen, wies aber jegliche Schuld von sich: «Wenn das ein Foul ist, muss man die ganze Jugendausbildung umstellen. Ab fünf, sechs Jahren.» Tatsächlich wird schon den kleinsten Goalies beigebracht, bei Luftduellen das Knie hochzunehmen, um sich vor Angriffen gegnerischer Stürmer zu schützen. «99 Prozent der Torhüter machen das so», erklärt Casteels. Gerne springen Gegenspieler in den Torhüter, um sich so einen Vorteil zu verschaffen.
Stuttgarts Goalie Ron-Robert Zieler zeigte Verständnis für das Einsteigen seines Gegenübers und machte ihm keinen Vorwurf: «Man sagt ja, dass der Torhüter mit dem Knie rausgehen darf. Casteels ist halt sehr gross, deshalb ist sein Knie verdammt hoch.» Auch Stuttgarts Goalietrainer Marco Langner nimmt Casteels in Schutz: «Er kommt für einen Torwart sehr gut raus, springt schulbuchmässig ab. Schliesslich kämpft man als Torwart gegen 16, 18 Feldspieler. Wenn er ungeschützt hoch geht, kriegt er einen mit.»
Während Alfred Draxler im «Doppelpass» sich über menschliches Versagen der Unparteiischen, insbesondere Videoschiedsrichter Deniz Aytekin, aufregte, spricht der ehemalige Schweizer Spitzenschiedsrichter Carlo Bertolini von einem heiklen Entscheid: «Wenn man fünf Schiedsrichter fragen würde, wären wohl nicht alle derselben Meinung.» Er persönlich findet: «Casteels kommt mit vollem Tempo und nimmt eine Gefährdung des Gegners in Kauf. Ich hätte auf Penalty und Rot entschieden.»
Eine harte Nacht für Casteels
Auch der ehemalige FCZ-Goalietrainer Christian Bösch spricht von einem Graubereich: «Der Entscheid so geht in Ordnung, obwohl sich Casteels über ein Foul und Karte nicht hätte beschweren können.» Bösch trichtert seinen Torhütern ein, beim Absprung mit dem linken Bein das rechte Knie anzuziehen, und umgekehrt. Dazu er gibt zu bedenken: «Der Junge hat sicher keine gute Nacht hinter sich, der Zusammenprall hat ihm sicher extrem leidgetan.»
Müssen Goalies jetzt also komplett umdenken? Stuttgarts Sportchef Reschke findet, man solle die Spielweise mit dem Knie voraus bei Torhütern grundsätzlich überdenken, auch wenn das jahrelang so praktiziert wurde: «Womöglich muss ein Umdenken stattfinden.» Ansonsten könnten im Hochgeschwindigkeitsspiel der Neuzeit häufiger solche Unfälle passieren.
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