Neuer Roman Houellebecq spekuliert jetzt über Attentate auf Flüchtlinge
Wahlkampf mit einem TV-Moderator, Anschläge auf Samenbank und Bootsflüchtlinge: Der neue Roman von Skandalautor Michel Houellebecq ist einfach nur lahm.

Nein, Sinn für Timing kann man ihm wirklich nicht absprechen. In seinem letzten Roman «Serotonin» blockieren wütende Bauern eine Autobahn – kurz bevor die Gelbwesten das wirkliche Frankreich lahmlegten. «Unterwerfung», der vorletzte, beschrieb, wie sich die «grande nation» einem sanften Islamismus unterwirft – der Roman erschien 2015 an dem Tag, als islamistische Terroristen das Massaker in der Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo» verübten; die aktuelle Nummer schmückte ausgerechnet Michel Houellebecq als Titelbild.
Solche Koinzidenzen trugen dem Autor den Ruf als gesellschaftlicher «Seismograf» ein und machten seine Bücher, unabhängig von ihrem eher dürftigen literarischen Wert, zu «Ereignissen». Auch ausserhalb Frankreichs wollen Zeitungen den «neuen Houellebecq» selbstverständlich zeitnah und prominent besprochen haben.
Den Wirtschaftsminister freuts
Nun also: Der «neue» heisst «Vernichten», was man als Infinitiv oder als Imperativ lesen kann, ist 600 Seiten dick und erneut gut getimt: Frankreich läuft sich gerade für den Präsidentschaftswahlkampf warm, Houellebecq schildert schon den übernächsten. 2027 steht Emmanuel Macron am Ende seiner zweiten Amtszeit und bringt als Nachfolgekandidaten den Moderator einer TV-Show ins Spiel, einen populären Dünnbrettbohrer, den er später wieder selbst abzulösen gedenkt (der Putin-Medwedjew-Move).
Die eigentlich starke Figur des jetzigen und künftigen Kabinetts ist Bruno Juge, «der grösste Wirtschaftsminister seit Colbert» (das war immerhin im 17. Jahrhundert). Der ist ganz offensichtlich dem tatsächlichen Minister Bruno Le Maire nachgebildet, der sich bereits erfreut über das (schmeichelhafte) Porträt seines «Freundes Michel» geäussert hat.
Denn nicht nur hat der Roman-Bruno Frankreich in fünf Jahren saniert, sogar die Autoindustrie des Landes hat zu den deutschen Luxusmarken aufgeschlossen (wers glaubt …). Brunos wichtigster Mitarbeiter wiederum heisst Paul Raison. Aus seiner Perspektive ist der Roman erzählt.
Der Wahlkampf und seine mediale Instrumentierung bilden einen der beiden politischen Handlungsstränge des Romans. Der andere böte sogar noch besseren Stoff für einen Thriller: Eine unbekannte terroristische Gruppe stellt erst äusserst realistische Schockvideos ins Netz – eins zeigt die Enthauptung Brunos mit einer Guillotine – und verübt dann Attentate, die ideologisch nicht zuzuordnen sind: auf ein chinesisches Containerschiff, auf eine dänische Samenbank, schliesslich auf ein Boot mit 500 Flüchtlingen, denen, so sie noch schwimmen können, mit Maschinengewehrsalven der Garaus gemacht wird; ihr Todeskampf ist weltweit im Netz zu sehen, vierzig Minuten lang.
Der früher oft ganz amüsante Zynismus gegenüber Establishment und Institutionen blitzt nur gelegentlich auf.
Polizei, Staatsschutz, Geheimdienste in aller Welt beissen sich die Zähne an den unheimlichen Terroristen aus. Houellebecq lässt diesen Erzählstrang indes irgendwann fallen, nachdem er ihn schon vorher nie richtig straffgezogen hatte. Es wirkt, als hätte er plötzlich begriffen, dass er solche Plots besser echten Politthriller-Fabrikanten wie Robert Harris überlassen sollte.
Auch der Wahlkampf hängt erzählerisch bald durch, zu klar ist von Anfang an, wer ihn gewinnen wird, trotz eines jungen, smarten und attraktiven Gegenkandidaten von der extremen Rechten. Ohnehin erfährt man über die politisch-mediale Mechanik trotz Houellebecqs angeblicher Insider-Beziehungen nicht mehr, als in jeder Zeitung steht (oder sich Klein-François selbst an seinen fünf Fingern ausrechnen kann).
Was interessiert den Autor also so sehr, dass er diesmal 600 Seiten füllen musste? Es ist der Niedergang Frankreichs, des Westens, des Abendlandes, der Zivilisation, der Menschheit, «Verlangsamung und Stagnation, der Auftakt zur Vernichtung» – sein Thema seit seinen Anfängen.
Im Zentrum steht ein typischer Houellebecq-Held, ein antriebsloser, depressiver Bürokrat, dessen Ehe am Ende ist (dass sie es dann doch nicht ist, werden Fans wohl als «positive turn» und «revolutionäre Wende» im Weltbild des Autors bejubeln), dessen Vater nach einem Schlaganfall in einem Altersheim dahinsiecht und dessen jüngerer Bruder sich umbringt, weil sein «Vertrauen ins Leben nicht stark genug war».
Auch über Paul heisst es, dass er «nicht so richtig zum Leben gemacht» sei. Er trägt zwar den im Land Descartes’ passenden Nachnamen Raison (Vernunft), aber «Rationalität ist nicht mit Glück vereinbar, sondern führt zur Verzweiflung», wissen er und sein Erfinder. Deshalb wäre Paul statt eines vernunftbegabten Wesens «lieber Baum oder Schildkröte». Kinder hat er keine, seiner Nichte begegnet er unverhofft als Escort-Girl.
Sex, für Houellebecqs Helden immer die einzige, wenn auch immer nur kurz sprudelnde Glücksquelle in einer heillosen Welt, kommt auch in «Vernichten» nicht zu kurz. Aber so richtig warm wird der Autor bei der Beschreibung diverser Blowjobs auch nicht. Sein Furor gegen die «Islamisierung Frankreichs» wiederum, einst verlässlich als Skandalisierungsauslöser, hat sich gelegt. Der früher oft ganz amüsante Zynismus gegenüber Establishment und Institutionen blitzt nur gelegentlich auf: am besten in der sarkastisch ausgemalten Planung einer internationalen Gedenkfeier für die toten Flüchtlinge, natürlich auf einem französischen Flugzeugträger.
Ein eher lahmer Houellebecq also. Und da ist es nur konsequent, dass ein blutleerer Held in einer Atmosphäre des Nieder- und Untergangs einen temperamentlosen, farblosen, konturlosen Stil hervorbringt.
Literarisch war Michel Houellebecq nie eine Grösse, vergleicht man ihn mit wirklichen Stilisten wie Mathias Enard, Patrick Modiano, Annie Ernaux oder Yasmina Reza. Wie in seinen vergangenen Büchern pflegt er auch hier eine schlampige, zwischen pseudosoziologischem Jargon und punktuellen Vulgarismen oszillierende Prosa, gesprenkelt mit Durchblicker-Sätzen à la «Alkohol ist eine paradoxe Sache» oder «Das Denken und das Leben sind schlicht unvereinbar». Übergenauigkeit in Details, die weder relevant noch atmosphärisch ergiebig sind – Uhrzeiten, Zugtempo, Strassenführungen –, kontrastieren mit Allgemeinplätzen und Konversations-Banalität.
Man spürt die Lustlosigkeit des Autors am Leben wie am Schreiben – und das springt auf die Lektüre über. Ein gelangweilter Autor langweilt. Auf seine Weise ist das auch kongenial.

Michel Houellebecq: Vernichten. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. Dumont, München 2022. 620 S., ca. 42 Fr.
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