Ich bin Rentner, also stehle ich
Sie klauen, fahren betrunken Auto und mogeln bei den Steuern: Die Kriminalität bei Senioren steigt seit Jahren. Die Gründe dafür sind verblüffend.

Ein Freitagmorgen kurz vor Jahresende. Ein Mann betritt die Raiffeisenbank im luzernischen Meggen. Keine Schlange am Schalter. Die Lage ist optimal. Der Mann ist nicht gekommen, um Geld abzuheben. Er will das Geld rauben – was ihm ohne Komplikationen gelingt. Zehn Tage später wird er zu Hause festgenommen. Er wehrt sich nicht, die Beute rückt er gleichmütig heraus. Eine Waffe findet die Polizei bei ihm zu Hause nicht.
Das Verstörende an diesem Bankraub: Der Mann ist 80 Jahre alt, ein bisher unbescholtener Bürger. Seine Frau wusste anscheinend von nichts. Was ist da bloss passiert? Über die Motive, die einen betagten Mann zu einer solch kriminellen Tat treiben, schweigt die Staatsanwaltschaft Luzern. Laufende Ermittlungen.
Alterskriminalität steigt seit Jahren an
Vielleicht hatte der Rentner Geldprobleme. Vielleicht war er geistig verwirrt. Oder: Hat er vielleicht bloss einen Kick in seinem tristen Alltag gesucht? Auch wenn die Motive des Mannes unbekannt sind: Dass er seinem Dasein mit einem Bankraub mehr Pep verleihen wollte, ist nicht abwegig. Denn Zahlen und Studien zeigen: Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, steigt die Alterskriminalität – wenn auch auf einem tiefen Niveau – seit Jahren kontinuierlich an. Im Jahr 2011 waren laut dem Bundesamt für Statistik 4361 strafrechtlich Beschuldigte über 60 Jahre alt. 2016 waren es bereits 5263. Das entspricht einem Zuwachs von fast 21 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Bezieht man das Wachstum der Bevölkerung der über 60-Jährigen ein, ist die Kriminalität seit 2011 in diesem Alterssegment immer noch um 10 Prozent gestiegen.
Dass Banküberfälle durch 80-Jährige künftig zum kriminellen Alltag gehören, ist jedoch unwahrscheinlich. Die häufigsten Straftaten, für die über 60-Jährige heute angezeigt werden, sind leichtere Delikte: Ladendiebstahl, Beleidigungen, Drohungen, Verkehrsvergehen oder Steuerbetrug.
Gesellschaft spricht Senioren eine Funktion ab
Allein mit der Überalterung der Bevölkerung lässt sich das Phänomen nicht erklären. Die Ursachen liegen tiefer. «Sie spiegeln im Grunde festgefahrene Altersbilder», sagt die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Die emeritierte Professorin hat an der Uni Bern mehrere Studien zu Generationen- und Altersthemen verfasst und ist überzeugt: «Unsere Leistungsgesellschaft spricht alten Menschen jegliche gesellschaftliche Funktion ab, obwohl sie immer länger leben, zahlreicher und fitter werden.»
Wenn Menschen aber keine Funktion mehr haben, was tun sie dann? Es verwundert nicht, dass manche Senioren in Regelverstössen eine sinnstiftende Tätigkeit finden, die ihrer Existenz wieder eine Bedeutung verleiht. Natürlich muss das nicht gleich ein Bankraub sein. In der Regel rebellieren Senioren mit subtileren Aktionen. Als im letzten Frühling die 86-jährige Louise Schneider illegal zur Spraydose griff und auf dem Bundesplatz vor der Schweizer Nationalbank «Geld für Waffen tötet» auf eine Abschrankung sprayte, wurde sie als Heldin gefeiert. Wow, so eine coole Oma! Wäre die Aktivistin jünger gewesen, hätte man medial kaum Notiz von ihr genommen. Mit anderen Worten: Wir trauen Senioren nicht viel zu. Wenn sie doch etwas bewegen, gelten sie als Ausnahmeerscheinung.
Neid und Bewunderung
Die delinquente Altersheldin wird von Jüngeren aber nicht nur bewundert. Sie wird insgeheim auch beneidet. Um die Narrenfreiheit, die Rentner geniessen, weil sie keine Verantwortung mehr für Job und Familie tragen. Weil sie eigentlich nichts mehr zu verlieren haben. Die Altersforscherin Perrig-Chiello nickt. «Diesen Freiraum werden die zukünftigen Alten wohl noch mehr nutzen, weil sie ihren selbstbestimmten Lebensstil im Alter nicht einfach aufgeben werden.» Sie denkt dabei an die 68er-Generation, die sich kaum so regelkonform verhalten wird wie die heutigen Rentner.
Zu diesem Schluss kommt auch der Gerontologe Dennis Roth, der in seiner Dissertation das delinquente Verhalten im Alter untersuchte. «Die Babyboomer sind eine Generation, die sich von traditionellen Werten und Unfreiheiten emanzipiert hat. Sie haben deshalb weniger Scheu, auch gesetzliche Barrieren zu überschreiten.» Die steigende Alterskriminalität sieht Roth als «ein soziales Phänomen einer neuen Alterskultur».
Die Altersarmut spielt bei Delikten keine Rolle
Wer im Alter kriminell wird, tut dies in der Regel nicht aus Altersarmut, wie eine Studie des Max-Planck-Instituts für Strafrecht belegt. Die meisten der Befragten ordneten sich der Mittelschicht zu und waren finanziell gut abgesichert. Spielt Armut dennoch eine Rolle, äussert sich das in einem Wohlstandsland nicht unbedingt darin, dass Senioren klauen, weil sie hungern. Eher will man sich etwas gönnen, einen kleinen Luxus, den man sich mit der kleinen Rente nicht mehr leisten kann. «In einigen Ladendiebstählen spiegeln sich sicher auch unsere gehobenen Konsumansprüche wider», interpretiert Perrig-Chiello die Motive. Was die anderen haben, den schönen Kaschmirschal der Freundin, will man auch. Zudem gibt die Altersforscherin zu bedenken: «Auch wenn man anderen etwas Wertvolles schenken kann, steigert das den eigenen Wert, und man fühlt sich dadurch selber bedeutungsvoller.»
Man kann aber auch aus reinem Spass an der Sache kriminell handeln. Die Rentnerin Barbara kennt sich damit aus. Die 71-Jährige möchte lieber anonym bleiben, weil ihr ihre Eskapaden peinlich sind. «Ich brauche den Kick. Ladendiebstahl ist für mich eine Art Sport», gesteht sie. Barbara ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hat sich als Jugendliche mit kleinen Diebstählen «subventioniert», wie sie es nennt, «ohne schlechtes Gewissen, denn das hatten die Moralpredigten des Pfarrers längst abgestumpft».
Heute reizt sie bei ihren Diebstählen das Abenteuer des Verbotenen. Wertvolles stehle sie nie, nur Gebrauchsware, sagt sie. «Es befriedigt meine Sparsamkeit und macht Spass, weil ich gut darin bin. Ich liebe den Adrenalinstoss, den mir die Angst vor dem Erwischtwerden beschert.» Barbara weiss genau, dass eine ältere elegante Dame harmlos wirkt. Bisher ist sie straffrei davongekommen.
Doch hinter dem ganzen Spass verbirgt sich oft auch das Gegenteil: eine Verzweiflungstat. Vielleicht will Barbara genauso wie der 80-jährige Bankräuber vor allem signalisieren, dass sie noch da ist. Ich lebe, auch wenn ihr glaubt, ich sei nutzlos. «Diese Menschen wollen sich einerseits selber wieder spüren, sie wollen aber auch eine Reaktion provozieren», nennt Perrig-Chiello mögliche Gründe.
Sozialkurse statt Gefängnis für Senioren
Fakt ist, dass viele ältere Menschen unter Einsamkeit leiden. Unter den Delinquenten finden sich entsprechend viele Alleinstehende. «Diese Menschen werden eher aus einer Not heraus kriminell, aus einem Mangel an Alternativen, damit andere endlich Notiz von ihnen nehmen», sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Baier sieht in der steigenden Alterskriminalität aber auch ein Zeichen dafür, dass sich die Generation 60 plus zunehmend wehrt. Denn gerade Beschimpfungen und Drohungen stehen hoch im Kurs. Man lässt sich weniger gefallen, man will Vergehen aber auch entsprechend sanktioniert wissen. Baier geht davon aus, «dass Beschimpfungen öfter von älteren Menschen untereinander angezeigt werden». Sprich: 70-Jährige beschimpfen sich erst – und zeigen sich dann gegenseitig an.
Strafe als Erziehung funktioniert nicht
Für die Altersforscherin Perrig-Chiello könnten psychische Erkrankungen ein weiterer Grund sein. «Bei beginnender Demenz sind die Kontrollfunktionen im Gehirn vermindert. Da kann es passieren, dass man schneller ausrastet oder soziale Situationen nicht mehr richtig einschätzen kann.» Statt in einer brenzligen Lage zu schweigen, reagieren Betroffene ihren Frust ungehemmt am Gegenüber ab. Mit ungeahnten Folgen.
Doch was bringen in solchen Fällen Geldbussen oder gar Freiheitsstrafen? Der erzieherische Aspekt einer Strafe greift bei älteren Menschen oft zu kurz. Und auch der abschreckende Zweck verliert im Alter an Wirkung. Kriminologe Dirk Baier ist überzeugt, «dass Richter künftig breiter denken müssen». Kreativität sei gefragt, damit man «individuell angemessene Sanktionen für ältere Menschen findet». Er denkt etwa an verordnete Kurse, in denen vereinsamte Delinquenten wieder sozialen Anschluss finden. Oder an Massnahmen, die älteren Menschen helfen, die viele Freizeit mit legalen Hobbys zu füllen.
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