«Ich erachte dies als eine Überreaktion»
Der Auftritt des türkischen Aussenministers dürfe nicht verboten werden, sagt die grüne Nationalrätin Sibel Arslan. Dennoch müsse der Bundesrat handeln.

Frau Arslan, Ihrer Meinung nach dürfen die Schweizer Behörden den Auftritt des türkischen Aussenministers nicht absagen. Gilt die Redefreiheit um jeden Preis? Auch hierzulande gibt es Leute, die provokative Äusserungen machen. In solchen Fällen wägt die Schweiz jeweils ab – und kommt in der Regel zum Schluss: Solange die Aussagen keine Grundwerte tangieren, sollen auch umstrittene Veranstaltungen möglich sein. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist in der Schweiz ein hohes Gut und in unserer Verfassung verankert. Sind allerdings gewisse Kriterien wie etwa die Sicherheit nicht gewährleistet, gilt dieses Recht nicht uneingeschränkt.
Der Kanton Zürich sowie das Hilton-Hotel als Veranstaltungsort haben ernsthafte Sicherheitsbedenken. Ist diese Angst übertrieben? Ich erachte dies als eine Überreaktion, weil ich davon ausgehe, dass die Türken in der Schweiz keine Eskalation wollen. Es ist allerdings undiplomatisch von einem Vertreter des türkischen Staates, dass er Provokationen in der Diaspora europäischer Länder in Kauf nimmt. Und das müsste die Schweiz auf diplomatischer Ebene kritisieren. Schliesslich wollen wir nicht, dass diese Konflikte in die Schweiz getragen werden. Aber auf die plumpe Provokation aufzuspringen, indem wir den Anlass verbieten, ist kontraproduktiv und verstösst gegen unsere eigenen Werte.
Auch wenn wir damit reine Politpropaganda eines repressiven Staates zulassen? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin mit dem Inhalt der geplanten türkischen Verfassungsänderung keineswegs einverstanden. Aber mit einem Redeverbot lösen wir das Problem nicht. Stattdessen müsste die Schweiz die Gelegenheit nutzen und die Türkei darauf hinweisen, dass sie ein Präsidialsystem nicht als geeignete Staatsform erachtet. Und dass es die Zusammenarbeit mit den europäischen Ländern erschweren wird, weil dadurch ein autoritäres Regime eingerichtet wird.
Der Bundesrat übt sich in dieser Frage aber in Zurückhaltung. Die Schweiz darf nicht länger untätig bleiben gegenüber den Entwicklungen in der Türkei, denn von den Folgen ist sie direkt betroffen. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, werden weitere Türken das Land verlassen und nach Europa kommen. Schon heute haben wir eine viel politisiertere Diaspora als etwa Deutschland, da zu uns nicht primär Gastarbeiter, sondern Schutzsuchende kamen. Und jetzt kommt der Aussenminister und will genau bei jenen Leuten, welche die Türkei verlassen mussten, Werbung für ein neues System machen, das wieder eine Flüchtlingswelle auslösen wird. Da darf die Schweiz doch nicht schweigen!
Für Bundesrat Burkhalter war es gestern zunächst kein Problem, dass ein ausländischer Redner in die Schweiz komme. Verlangen Sie von ihm ein dezidierteres Statement? Burkhalter verhält sich diplomatisch, indem er das Thema nicht aufkocht. Wichtig ist aber, dass der Bundesrat nun die Verfassungsänderung explizit als problematisch bezeichnet.
Selbst wenn er dies noch tun sollte: Das Sicherheitsrisiko bei einem Auftritt bliebe bestehen. Das haben gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden im Herbst 2015 in Bern gezeigt. Es stimmt: Die Stimmung in der türkischen Diaspora ist zurzeit sehr gereizt. Das nimmt parallel zur Zuspitzung der Lage in der Türkei zu. Daraus haben hoffentlich alle Beteiligten gelernt.
Trotzdem sehen Sie keine Eskalationsgefahr? Würde die Veranstaltung durchgeführt, gäbe es wohl einzelne Provokateure und sicherlich eine Gegendemonstration. Aber die Mehrheit der türkischstämmigen Diaspora ist sich bewusst, dass der Auftritt eine Provokation ist, auf die man sich nicht einlassen sollte. Diese Leute wollen keine Ausschreitungen, schliesslich leben sie hier.
Wie hat sich die Stimmung in der Diaspora seit dem Putsch im letzten Sommer verändert? Die Bespitzelung regierungskritischer Personen hat zugenommen. Auf einer internationalen Online-Plattform können vermeintliche Staatsfeinde und Terroristen gemeldet werden. Ich habe auch in der Schweiz von solchen Fällen gehört. Es herrscht ein grosses Misstrauen. Man weiss nicht, mit wem man worüber sprechen darf. Sogar in den Familien und an den Arbeitsplätzen. Solange die Konflikte in der Türkei nicht gelöst sind, wird auch die Diaspora nicht zur Ruhe kommen.
Sogar der türkische Vizebotschafter in der Schweiz, Volkan Karagöz, hat ein Asylgesuch gestellt. Wie plausibel ist es, dass er ernsthaft in Gefahr ist? Das ist plausibel, denn er wird nun als Gülen-Anhänger bezeichnet, und auf ihnen lastet der schwerwiegende Vorwurf, dass sie den Präsidenten umbringen wollten. Er kann nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen, das ist aus anderen Fällen ersichtlich.
Ironischerweise hatte aber gerade Karagöz letztes Jahr den türkischen Rechtsstaat gepriesen. Er bezeichnete ja auch das neue System als demokratisch. Nur ist es mitnichten eine Demokratie, wie wir sie verstehen. Offensichtlich hat er seine Meinung geändert oder hatte lediglich seine diplomatische Arbeit gemacht. Auch in seinem Fall zeigt sich: Präsident Erdogan geht es längst nicht mehr um den Putsch, sondern um den Ausbau der Macht.
Bürgerliche Politiker warnen davor, ihm Asyl zu gewähren, da dies viele Folgefälle nach sich ziehen würde. Er hat das Recht auf ein faires Verfahren, unabhängig von solchen Mutmassungen. Das gilt für alle. Es lässt sich schlecht abschätzen, was geschieht, wenn das Referendum durchkommt. Unter Umständen wird die Situation dann sowieso ein globales Problem.
Das Hotel hat den Anlass nun bereits abgesagt. Was geschieht, wenn ihn auch die offizielle Schweiz verbietet? Die türkische Regierung und ihre Sprachrohre in den Medien werden sich wie im Fall Deutschland als Opfer darzustellen versuchen. Mit einem Verbot ist weder der Sache noch unseren Werten gedient.
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