«Ich habe dafür gekämpft, dass der Staat mich versorgt – mit Erfolg!»
Kultautor Dag Solstad über den Nobelpreis für Peter Handke und die Eigenheiten des norwegischen Schriftsteller-Daseins.

Herr Solstad, was sagen Sie zum Nobelpreis für Peter Handke?
In meiner Lebenszeit haben drei, vielleicht vier Autoren den Nobelpreis bekommen, die ich für wichtig halte, die mir etwas zu sagen haben. Peter Handke gehört für mich dazu, über die Vergabe des Preises an ihn habe ich mich gefreut.
Handke gilt als Ihr Bewunderer, wird aber hart angegriffen wegen der Verharmlosung serbischer Kriegsverbrechen. Beschädigt das auch in Ihren Augen sein poetisches Werk? Sie haben in Norwegen ja mit Knut Hamsun auch einen umstrittenen Nobelpreisträger.
Es ist nicht angemessen, Handke und Hamsun zu vergleichen. Hamsun hat den Nationalsozialismus und das deutsche Besatzungsregime offen unterstützt und wurde dafür zu Recht als Kollaborateur verurteilt. Handke hat eine slowenische Mutter und das frühere Jugoslawien als sein zweites Vaterland angesehen. Er hat als Sohn des Landes auf seine Weise getrauert über Zerfall und Bürgerkrieg.
Sie waren als junger Mann Kommunist, ja Maoist. Können Sie das heute noch verstehen?
Ja, es gibt diesen jungen Mann noch in mir! Trotzdem bin ich froh, dass Norwegen in den 1970er-Jahren nicht kommunistisch geworden ist, das hätte nicht funktioniert, wie man an den real existierenden Kommunismen gesehen hat. Der Kommunismus muss sich sehr verändern, bis er wirklich dem Volk dient. Das wird vielleicht in 200 Jahren so weit sein. Aber dem Ideal des Kommunismus hänge ich immer noch an.
«In Norwegen ist alles zugelassen, aber Streit wird nicht ausgetragen.»
Die norwegische Gesellschaft, die Sie damals umstürzen wollten, hat sich stark verändert, hin zu einem satten Wohlstandsstaat. Er steht in allen Indizes oben, bei Pressefreiheit, politischer Freiheit, Transparenz. Norwegen, das Paradies auf Erden?
Es mag ein Paradies sein für die Mehrzahl der Menschen, aber nicht für mich. Das hat die Frankfurter Buchmesse gerade wieder gezeigt. Da hat unsere Ministerpräsidentin Erna Solberg bei der feierlichen Eröffnung die Literatur gepriesen, dieselbe, die kürzlich eine Inszenierung von Ibsens «Volksfeind» scharf kritisiert hat. Natürlich ist man in Norwegen frei, alles zu sagen. Aber es herrscht das, was der Philosoph Marcuse einst «repressive Toleranz» genannt hat. Die hat mich schon in meinem ersten Roman 1971 beschäftigt. Es ist etwas typisch Norwegisches: Alles ist zugelassen, aber Streit wird nicht ausgetragen.
Ist Norwegen dann vielleicht ein Paradies für Schriftsteller? Es gibt dort die «Abnahmeregelung» – der Staat kauft einen Teil der Auflage jedes Buchs auf und verteilt ihn an die Bibliotheken –, es gibt grosszügige Stipendien, auch Sie bekommen ja eine Staatsrente.
Ja, Norwegen hat gute Unterstützungsprogramme für die Literatur. Das geht zurück auf die 60er-Jahre. Damals lag die norwegische Belletristik am Boden, es wurde wenig geschrieben, wenig verkauft, und da hat der Staat – auch unter dem Druck der Autoren – verstanden, dass etwas passieren muss. Heute erleben wir ja geradezu ein goldenes Zeitalter. Damals war ich ein junger und sehr unzufriedener Autor, und ich habe dafür gekämpft, dass der Staat mich versorgt – mit Erfolg! Ich konnte als Sohn aus armem Elternhaus, als Student und junger Familienvater ohne Geldsorgen schreiben. Heute müssen die jungen Schriftsteller sich viel stärker am Markt orientieren.
Zuletzt ist auf Deutsch der Roman «T. Singer» erschienen. Zwanzig Jahre nach der Originalausgabe. Wie stehen Sie heute zu diesem «alten» Buch?
Als das Buch jetzt auf Deutsch erschienen ist, habe ich mir die deutschen Rezensionen angesehen und dabei gedacht: Mensch, diesen Roman würde ich gern lesen!
Zu den vielen komischen Momenten in diesem Roman gehört der, als T. Singer Schriftsteller werden will, aber über den ersten Satz nicht hinauskommt. Ist das eine ironisch gefärbte Erinnerung an eigene schwierige Schreibanfänge?
T. Singer und ich sind uns schon sehr ähnlich, und die Suche nach dem richtigen Satz verbindet uns beide, da erkenne ich mich wieder. Aber anders als T. Singer bin ich irgendwann über den ersten Satz hinausgekommen und Schriftsteller geworden. Er hat es nicht geschafft. Es liegt mir aber fern, ihn lächerlich zu machen, dazu bin ich ihm zu nah.
«Wenn es in Italien Schamgefühl gäbe, würden sich die Politiker dort anders verhalten.»
Beherrschendes Gefühl Ihres Helden ist die Scham, die Angst vor Peinlichkeit. Findet man das häufig in Norwegen, hat das mit der religiösen Prägung zu tun?
Mit der protestantischen Religion hat das durchaus zu tun. Aber ob es typisch norwegisch ist? Sicher ist die Scham bei uns weiter verbreitet als etwa in Italien. Wenn es in Italien Schamgefühl gäbe, würden sich die Politiker dort anders verhalten.
T. Singer ist ein Grübler, dessen Gedanken sich in langen, mäandernden Sätzen vorantasten. Das führt zu einem besonderen Stil, für den schon das Adjektiv «solstadisch» geprägt wurde. Wie erreichen Sie diesen Stil?
Ich nehme mir viel Zeit beim Schreiben und versuche, einen Absatz so präzise wie möglich hinzukriegen. Da lasse ich mir nichts durchgehen, ich bleibe dran, bis ich es hingekriegt habe. Präzis muss es sein, nicht perfekt. Ich habe schon erlebt, dass ich einen Satz hingeschrieben habe und gemerkt habe, auch eine andere Version, ja sogar das Gegenteil wäre möglich und richtig. Dann hat der Satz keine zwingende Notwendigkeit – und dann muss er weg. Jeder Satz muss seine Notwendigkeit haben, und jeder Satz kann auch nur eine einzige Form haben.
Titel sollen Leser ja anziehen und zu Kauf und Lektüre animieren. Ihre Titel sind eher abschreckend. Sie heissen «Roman 1987» oder «Elfter Roman, Achtzehntes Buch».
Ja, das will ich so. Ich könnte auch sogenannte gute Titel finden! Aber die üblichen Romantitel greifen einen Aspekt heraus und lenken so das Verständnis. Ich möchte, dass alle Elemente des Romans das gleiche Gewicht haben. Deshalb wähle ich solch neutrale Titel. Ein bisschen habe ich mich von der Musik inspirieren lassen. Da heisst es ja auch 5. Sinfonie oder Sonate Nr. 10.
Sie selbst sind in Norwegen ein Star, im Ausland vielfach noch ein Geheimtipp. Das liegt sicher nicht nur an den Titeln.
Literatur ist heute geprägt von Bestsellern. Ein Bestsellerautor war ich nie, und wer sollte sich etwa in der deutschen Literaturlandschaft für einen Mann interessieren, dem es nicht gelingt, einen Regenschirm aufzuspannen?
… wie in Ihrem Roman «Scham und Würde».
Ich bediene auch nicht die üblichen Vorstellungen von norwegischer Natur. Was ich schreibe, ist aber typischer norwegisch als das Norwegen-Klischee.
«Englisch bedroht die norwegische Sprache.»
Inzwischen gibt es aber mehr und mehr Übersetzungen. Stehen Sie sich selbst vielleicht im Weg, weil Sie kein Englisch sprechen wie doch eigentlich alle Ihre Landsleute?
Tatsächlich sehe ich die norwegische Sprache bedroht vom allgegenwärtigen Englisch. Aber dass ich selbst nicht Englisch spreche, hat mit meiner mangelnden Sprachbegabung zu tun. Und was die Norweger angeht: Die sprechen im Ausland schon gut Englisch. Aber erst wenn sie wieder unter sich sind, können Sie sich richtig entspannen: auf Norwegisch.
Das einschneidendste Ereignis in Norwegens jüngster Vergangenheit war das Attentat von Anders Breivik. Hat dieser Schock Norwegen verändert, und hat er auf Ihr Schreiben irgendeinen Einfluss?
Wenn es Norwegen verändert hat, dann nicht nachhaltig: Die rechte Fortschrittspartei ist doch wieder obenauf. Und was mich betrifft: Ich brauche lange, um Dinge zu verstehen, erst dann kann ich darüber schreiben. Und so weit bin ich hier noch nicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren zur Buchmesse eingeladen war, kreiste das Flugzeug über Frankfurt. Ich sah eine Wolkenformation und glaubte darin meinen Vater zu erkennen. In dem Moment kam mir der Gedanke, über meinen Vater zu schreiben, der starb, als ich elf war. Vorher hatte ich nie daran gedacht. Und dann hat es noch einmal 15 Jahre gedauert, bis daraus ein Roman geworden ist. Die Wolkenszene ist darin – nur um zu sagen, wie lange Dinge bei mir brauchen, um zur Literatur zu werden. Der Roman wird übrigens gerade ins Deutsche übersetzt.
Und, hat er auch einen schönen Titel?
Er heisst «16. 7. 41», das ist mein Geburtsdatum.
Das Interview dolmetschte Ina Kronenberger.
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