Ich hätte besser auf die Tests verzichtet
Fehldiagnosen an Ungeborenen machen die Schwangerschaft zur unnötigen Qual. Weniger zu wissen wäre deshalb oft besser.

«Seit Wochen habe ich das Gefühl, ich lebe in einem Alptraum, der nicht enden will», schreibt die werdende Mutter im Forum. «Nach dem Ersttrimestertest hiess es, dass mein Kind eine genetische Fehlbildung haben könnte. Meine Welt brach zusammen, es ist der Horror. Ich esse nicht mehr, weine nur noch und verzweifle fast ab dieser Ungewissheit.»
Zwei Monate dauern die weiteren Abklärungen, die eine Plazentabiopise, Fruchtwasserpunktion, Blutuntersuchungen beider Eltern und mehrere Gespräche bei Genetikern beinhalten. Es wird vermutet, dass das Kind «mittel bis schwer behindert» sein könnte. Und dann der nächste Forumseintrag: «Die letzten acht Wochen haben mir so viel Kraft geraubt, dass ich keine Hoffnung mehr hatte. Dann kam der Anruf, dass das Unglaubliche eingetroffen und das Kind mit über 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit kerngesund sei.»
Eine grosse Wut überfiel mich beim Lesen, denn die Geschichte erinnerte mich stark an meine eigene. Die werdende Mutter war nun im sechsten Monat der Schwangerschaft. Zwei davon hatte sie mit unvorstellbaren Ängsten verbracht. Mehrmals drehte sich das Thema im Forum um die Frage, ob sie ein behindertes Kind zur Welt bringen und grossziehen wollte, respektive konnte, oder nicht. Diese Frage war in dieser Situation sicherlich legitim.
Auch bei meinem Kind diagnostizierten die Ärzte in der 20. Woche einen Herzfehler. Natürlich wollte ich als erstes wissen, was dies bedeutete. «Vielleicht nichts», war die Antwort, «es könnte aber auch ein Hinweis auf eine genetische Fehlbildung mit schwerer Behinderung sein.» Ich schluckte leer, bevor der Arzt anhängte: «Aber machen Sie sich keine Sorgen.»
Dafür war es aber bereits zu spät. Mein Kind durfte sein wie es wollte und ich akzeptierte es, wie es war, aber natürlich machte ich mir trotzdem Sorgen. Man legte uns nahe, im Unispital zu gebären, da das Kind nach der Geburt eventuell Intensivbehandlung benötige.
Nach der Geburt informierte uns der Arzt, dass nichts Aussergewöhnliches am Herz mehr festgestellt werden konnte. Ich war erleichtert, aber auch verärgert. Die Hälfte der Schwangerschaft hatte ich mich gesorgt, hatte geweint, gebettelt, gehofft. Alles ohne Grund.
Als Rechtfertigung sagte man mir: «Vielleicht sind wir manchmal etwas zu voreilig mit der Diagnosestellung. Aber besser einmal zu viel als das Risiko einzugehen, dass Sie uns verklagen, weil wir nicht sahen, dass Ihr Kind eine Behinderung hat.»
Unbestritten, vorgeburtliche Untersuchungen können helfen, Leben zu retten, man sieht es am Rückgang der Totgeburten. Aber das Überdiagnostizieren in der Schwangerschaft sehe ich als fatal an. Wie viele gesunde Kinder werden wohl heutzutage auf Grund einer Fehldiagnose abgetrieben? Und welchen Einfluss haben monatelange Sorgen und Ängste auf ein ungeborenes Kind?
Könnte ich das Rad der Zeit zurückdrehen, würde ich heute wohl auf einige der Untersuchungen in der Schwangerschaft verzichten. Die Frage für mich lautet nicht mehr «Will ich wissen, ob mein Kind gesund ist?» sondern «Akzeptiere ich mein Kind, wie es ist, oder nicht?»
Die Antwort auf die zweite Frage war immer ja, weshalb sich die ganzen Tests eigentlich erübrigt hätten und ich die neun Monate guter Hoffnung einfach ohne Panik hätte geniessen können. Aber im Nachhinein ist man immer klüger.
Dieser Artikel wurde erstmals am 7. April 2015 publiziert und am 24. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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