TV-Kritik: Wenn Mütter die Familie verlassen«Ich muss gehen, damit nichts passiert»
Die SRF-Dok-Serie «Die Entscheidung» zeigt, wie es dazu kommt, dass Frauen Mann und Kinder verlassen – und wie sehr sie dafür verurteilt werden.

Nein, es geht nicht um jene verzweifelten jungen Frauen, die ihr Land und ihre Kinder zurücklassen müssen, um in der Fremde Geld zu verdienen, um anderer Leute Kinder zu hüten, um zu putzen und dergleichen. Der neue SRF-Dokfilm «Die Entscheidung – Wenn Mütter gehen» beschäftigt sich mit Müttern hier in der Schweiz, die ihre Familie, ihre Kinder verlassen, weil es für sie nicht mehr geht. Und es geht um die Reaktionen, die ein solcher Schritt häufig auslöst, gerade bei anderen Frauen.
Im Zentrum des Films steht Maura Stocker (39), die vor sieben Jahren nach einer schweren psychischen Krise aus der gemeinsamen Wohnung auszog, als ihre drei Kinder zwei, sechs und acht Jahre alt waren. Stocker fühlte sich innerlich wie abgestorben und wehrte sich gegen ein Dasein im blossen Funktioniermodus; sie realisierte: «Ich muss gehen, damit nichts passiert.» Die Kinder blieben vorderhand grossteils beim Vater, während sie sich neu sortierte.
Eine Mutter, die ihre Kinder zurücklässt? Das ist noch immer ein Tabu, während es in Männerbiografien nicht selten ist, dass die Kinder nach einer Trennung bei der Mutter bleiben. Wie stark dieses Tabu noch greift, zeigt Susanne Arnolds Film deutlich.
Maura Stocker stiess auf viel Unverständnis und Kritik; bei gesellschaftlichen Anlässen wie dem Schulfest wichen ihr andere Eltern aus. Ihre Mutter berichtet, wie empört sie damals über den Entscheid ihrer Tochter war. «Ich hatte einen Wutausbruch», erinnert sie sich. Aber in vielen Gesprächen mit anderen habe sie erkannt: «Es ist Zeit, dass die Frau ihre Rechte bewusst wahrnimmt.» Stockers Ex-Mann wollte sich vor der Kamera nicht äussern.

Die Psycho- und Paartherapeutin Felizitas Ambauen sagt im Film, sie sei immer wieder erstaunt, wie ungehemmt diesen Frauen selbst von entfernten Bekannten Abwertungen an den Kopf geworfen würden, obwohl die Leute keine Ahnung von der Situation hätten. Schliesslich treffe keine Mutter leichten Herzens so eine Entscheidung; Schmerz und Schuldgefühle quälten sie meist sehr. Ihr zusätzlich Schuldgefühle zu machen, helfe niemandem. Auch müsse man sich bewusst sein, dass Mütter keineswegs allein verantwortlich für das Gedeihen der Kinder seien.
Das belegt sehr anschaulich Lianna Müller (28). Als sie drei Jahre alt war und ihr Bruder sechs, ging die Mutter in ihr Heimatland Malaysia zurück. Im Berner Oberland fühlte sie sich nicht wirklich zu Hause. Die beiden Kinder besuchten sie danach zwar regelmässig in den Sommerferien, aber für den Alltag, vom Frühstück bis zum Znacht, vom aufgeschlagenen Knie bis zur ersten Mens, war der Vater zuständig. Und der habe es super gemacht, betont Müller.

Sie sei oft bemitleidet worden, sagt sie, dabei habe es ihr an nichts gefehlt. Bis heute hat Lianna Müller eine innige Beziehung zum Vater – im Film sehen wir sie miteinander beim Grillieren. Mit der Mutter brach sie, als Erwachsene, den Kontakt ab. Ob Vater oder Mutter: Alle Eltern machten Fehler – nicht zwingend sei die Mutter die bessere Betreuungsperson, ist Lianna Müller überzeugt.
Das liegt auf der Hand, und Therapeutin Ambauen unterstreicht, dass ein erschöpfter, ausgebrannter, überforderter Elternteil für die Kinder keine Stütze sei. Eltern müssten sich selbst Sorge tragen, damit sie für die Kleinen da sein können. Und, wenn nötig, auch die Reissleine ziehen. Maura Stocker, die ihren Leidensweg ungeschönt schildert und deren Kraft beeindruckt, kann sich mittlerweile wieder zu 50 Prozent um ihre Kinder kümmern – und das Verhältnis zu ihnen ist sehr eng.
Der 50-minütige, arg ruhige Film bietet keine Überraschungen. Auch hätte man gern mehr Statistisches erfahren sowie noch einen anderen, allenfalls aktuelleren Beispielsfall kennen gelernt. Vielleicht liegt es aber in der Natur des Tabus, dass sich nur wenige Frauen mit einer solchen Geschichte vor die Kamera wagen. Jedenfalls wird in «Die Entscheidung – Wenn Mütter gehen» noch einmal glasklar, wie die Gesellschaft hier mit ungleichen Ellen misst und dass der manchmal überlebensnotwendige Selbstschutz der Mutter bis heute oft verurteilt wird.
Nächste Wiederholung: Montag, 23. 5., SRF. Online in der Mediathek abrufbar.
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