«Ich war eine Sekunde schneller als die anderen – das ist schon krass!»
Michelle Gisin hofft, dass ihr der Olympiasieg Selbstvertrauen gibt – und eine innere Ruhe.

Michelle Gisin, worum beneiden Sie Wendy Holdener?
Um ihre wahnsinnige Konstanz im Slalom, in dieser so komplexen, manchmal so mühsamen Disziplin. Wendy bringt es fast immer gut hinunter, auch im Training. Beeindruckend ist ihr Wille: Sie kann gute Läufe erzwingen. Ich bin das Gegenteil: Will ich etwas unbedingt, geht es in die Hosen.
Holdener verzichtete nach Olympia auf einen Empfang, Sie feierten in Engelberg eine grosse Party. Wollten Sie sich keine Ruhe gönnen?
Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Zuvor hatte ich mich daheim aber schon verkrochen.
Da Sie Zeit für sich brauchten?
Nicht unbedingt. Das Schönste war, die Emotionen mit der Familie zu teilen. Ich blieb eine Zeit lang im Dunkeln, weil sich der Kopf nach dem Sturz in der Abfahrt nicht gut anfühlte. Mit dem Jetlag, dem Schlafmangel und dem vielen Blitzlicht war es nicht besser geworden.
War es sonderbar, den grössten Erfolg Ihrer Karriere in Pyeongchang vor fast leeren Rängen einzufahren?
Es half zumindest nicht, zu verstehen, was genau abging. Weil wenig los war, schoss wenigstens das Adrenalin nicht durch jede Decke hindurch. An der WM in St. Moritz hatte ich den Erfolg schneller realisiert, die Emotionen fuhren schneller ein. Nun funktioniere ich einfach irgendwie, aber ich bin mir noch gar nicht bewusst, was ich erreicht habe, was rund um mich läuft. Ich war in der Olympiakombination eine Sekunde schneller als die anderen – das ist schon krass!
Was könnte die Goldmedaille in Ihrer Karriere bewirken?
Ich hoffe vieles, nicht zuletzt hinsichtlich des Selbstvertrauens. Aber eben, ich begreife gar nicht, dass ich Olympiasiegerin bin. (Überlegt) Die Medaille habe ich für immer, sie verleiht mir eine innere Ruhe. Und diese tut gut.
Welche Rolle spielt Schwester Dominique in Ihrer Karriere?
Eine extrem grosse, vor allem in den Speed-Disziplinen. Sie gibt mir das Vertrauen, welches die Trainer mir zu geben versuchen. Aber ein Trainer weiss nicht genau, wie es sich auf der Strecke anfühlt. Er weiss, wie es aussehen müsste, wo man durchfahren sollte. Das ist ein Unterschied.
Dem Vernehmen nach hat Ihre Mutter Druck auf Dominique ausgeübt, damit diese sich rund um die Abfahrten um Sie kümmert.
Vor dem ersten Rennen in Lake Louise hatte sie darauf bestanden, dass mich Dominique begleitet. Warum, weiss ich eigentlich auch nicht – es gibt schliesslich schwierigere Abfahrten. Für Dominique ist es etwas Wunderbares, ihre Erfahrungen weitergeben zu können. Sie hatte jahrelang auf die perfekte Fahrt hingearbeitet, nach dem Rücktritt war dieser Antrieb Knall auf Fall weg.
Fällt es Ihrem Bruder Marc sowie Ihrem Freund Luca de Aliprandini zuweilen schwer, als Skiprofis in Ihrem Schatten zu stehen?
Wir gönnen einander alles von Herzen. Vielleicht ist es für Marc speziell, oft nach den Schwestern gefragt zu werden. Aber ein Problem dürfte es nicht sein. Er hinterfragt meine Handlungen kritisch und gibt Inputs. Luca wiederum ist Italiener – da geht es um andere Medien, andere Interessen. Frauen- und Männerskisport sollte man aber nicht vergleichen.
Wie meinen Sie das?
Es sind zwei Welten. Bei den Männern ist die Dichte viel grösser. Ich meine das nicht abwertend, aber bei uns fahren vielleicht die Top 10 sehr gut, danach kommen ein paar Wilde. Es braucht bei den Männern viel mehr Risiko, um vorne hineinzufahren.
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