«Ich weiss, ich lebe gefährlich»
Die 19-jährige Negin Khpalwak dirigiert das afghanische Women's Orchestra Zohra. In ihrer Heimat wird sie dafür mit dem Tod bedroht.
Tonhalle Zürich, Kleiner Saal, heute vor einer Woche. Eine Gruppe von Mädchen sitzt in den Reihen, einzelne mit Kopftuch, die meisten ohne: das Zohra-Orchester aus Kabul, das erste und einzige weibliche Orchester Afghanistans. Soeben sind sie angereist aus Davos, wo sie am WEF aufgetreten sind; das Konzert hat ihre erste Europatournee eröffnet.
Vor ihnen steht Ahmad Sarmast, der Leiter des Afghanistan National Institute Of Music, wo dieses Orchester aufgebaut worden ist; er informiert sie über die Security-Massnahmen. Diese sind lebenswichtig für die Mädchen, auch für ihn selbst, zu Hause ebenso wie im Ausland. Morddrohungen, Anschläge, Beschimpfungen: Damit sind sie alle konfrontiert. Denn Frauen, die musizieren, begehen in der Sicht radikaler Islamisten eine Todsünde. Zwar sind die Taliban nicht mehr an der Macht, aber mächtig sind sie immer noch, vor allem auf dem Land.
Auch in der Provinz Kunar im Osten Afghanistans, wo Negin Khpalwak herkommt. Sie spielt nicht nur im Orchester, sondern dirigiert es auch – und vertritt es in flüssigem Englisch nach aussen. 19 Jahre alt ist sie, ihre Fingernägel sind rot lackiert, die Schrift auf dem Streifenpulli englisch. Am Abend, im Konzert, wird sie ein traditionelles afghanisches Kleid tragen und ein Kopftuch. Und dabei genauso bestimmt und offen wirken wie im Gespräch.
Am WEF in Davos haben Sie Ihr erstes Konzert im Ausland gegeben: Was bedeutet das für Sie?
Es war einfach wunderbar, dort zu sein: Auftreten zu können vor so vielen wichtigen Leuten! Das heisst doch, dass wir etwas erreicht haben. Viele im Publikum hatten Tränen in den Augen, viele haben uns ihre Visitenkarten gegeben und uns gefragt, wie sie uns helfen könnten.
Was haben Sie geantwortet?
Was die Regierungen tun können, weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass unsere Schule Hilfe brauchen kann: Unser Orchestersaal ist nur etwa doppelt so gross wie die Garderobe, in der wir hier sprechen – also sehr klein. Und wir sind froh um Instrumente, um Lehrer, die zu uns kommen. Wir haben viel vor mit unserer Musik. Wir wollen arbeiten und immer besser werden.
Und der Welt ein anderes Afghanistan zeigen?
Wir haben den Leuten in Davos gesagt: Ihr denkt, Afghanistan sei kein guter Ort. Aber es gibt auch viele positive Dinge dort, nicht nur unser Orchester. Es gibt einen Fussballclub für Mädchen, auch einen Basketballclub.
Und es gibt viele Leute, die dafür kämpfen.
Ja, wir müssen kämpfen, gegen die Gesellschaft, oft auch gegen unsere eigenen Familien. Viele Menschen in Afghanistan sagen, Mädchen sollen zu Hause bleiben. Als ich mich entschieden habe, Musik zu machen, haben meine Onkel gesagt, das sei schlecht; niemand in unserer Familie habe das je gemacht. Aber ich habe ihnen gesagt: «Ich will das tun, ich liebe das wirklich! Und ich bin ein Mensch wie ihr, also lasst mich bitte lernen.»
Meine Onkel sagen, sie bringen mich um, wenn sie mich sehen. Auch von Fremden werde ich beschimpft, wenn ich mit einem Instrument unterwegs bin.
Wie kamen Sie denn überhaupt auf die Idee, Musik zu machen?
In unserem Dorf gab es keine Schule, also kam ich mit neun Jahren in ein Waisenhaus in einem grösseren Ort und besuchte dort die öffentliche Schule. Eines Tages erzählte unser Schulleiter von einer Musikschule in Kabul, die auch Mädchen aufnimmt; wer sich interessierte, konnte eine Aufnahmeprüfung machen. Ich hatte bis dahin noch nie ein Mädchen gesehen, das Musik macht, aber ich wollte es trotzdem probieren.
Waren Ihre Eltern einverstanden?
Ich habe ihnen nichts davon gesagt. Aber nach der Prüfung waren Ferien, und da kam ein Anruf, ich hätte bestanden. Meine Mutter war ganz aufgeregt, «was soll das heissen, Musikschule?». Aber mein Vater hat gesagt: «Das ist gut, eine Musikerin in unserer Familie! Ich liebe Musik.» Er würde alles für mich tun. Ohne seine Unterstützung hätte ich diesen Weg nie gehen können. Er hat dafür gesorgt, dass ich schon eine Woche nach dem Bescheid mit der Schule beginnen konnte.
Damit begannen auch Ihre Schwierigkeiten.
Meine Onkel waren gar nicht einverstanden. Sie haben meinem Vater gesagt, er sei nicht mehr ihr Bruder. Auch meine Grossmutter hat ihn als Sohn verstossen. Er hat versucht, mit ihnen zu reden, aber es hat nichts gebracht. Damals arbeitete er in Tadschikistan, er war oft lange weg. Und als ich einmal in den Ferien nach Hause kam, haben mich die Onkel festgehalten. Sie liessen mich nicht mehr zur Schule gehen, sechs Monate lang. Sie sagten, ich sei eine Schande für die Familie. Ich habe die ganze Zeit geweint, ich konnte nichts mehr essen; meine Mutter hat versucht, mich zu füttern, sie konnte ja auch nichts tun für mich. Als mein Vater zurückkam, brachte er mich sofort wieder zur Schule, aber er sagte mir: «Geh nie mehr nach Hause in den Ferien, bleib in Kabul im Waisenhaus.»

Warum ist Ihr Vater so anders als seine Brüder?
Er liest sehr viel; ich glaube, es hat damit zu tun. Er liest alles, was er bekommen kann, viele Bücher über Geschichte, auch europäische Geschichte. Freiheit ist für ihn sehr wichtig.
Was haben Ihre Eltern für eine Schulbildung?
Mein Vater ist nur bis etwa zwölf zur Schule gegangen, meine Mutter gar nicht. Aber sie schicken alle ihre Kinder in die Schule; ich bin die Älteste von acht. Mittlerweile lebt meine Familie mit mir in Kabul, dort ist es normal, dass die Kinder die Schule besuchen, auch die Mädchen. Auf dem Land nicht. In meinem Dorf sind die meisten Mädchen in meinem Alter verheiratet und haben zwei Kinder.
Zog Ihre Familie Ihretwegen in die Hauptstadt Kabul?
Ich hatte sie vier Jahre lang nicht gesehen, weil ich nicht nach Hause zurückkehren konnte, und ich habe sie schrecklich vermisst. Ich weinte am Telefon, bis mein Vater mich schliesslich heimreisen liess – allerdings nicht ins Haus, denn dort waren ja die Onkel. Wir wollten uns ausserhalb treffen, aber meine Mutter und meine Geschwister durften nicht; wenn sie zu mir gekommen wären, hätte man sie aus dem Haus verstossen. Und sie hatten ja keinen anderen Ort, wo sie hätten hingehen können! Danach beschlossen meine Eltern, dass sich mein Vater einen Job in Kabul suchen würde. Er fand einen, als Wärter in der Residenz des Präsidenten. Ich lebe jetzt nicht mehr im Waisenhaus, sondern mit meiner Familie. Es gibt natürlich immer wieder Probleme, aber wir sind entspannter als früher. Eine glückliche Familie.
Keine Angst mehr?
Doch. Meine Onkel sagen, sie bringen mich um, wenn sie mich sehen. Auch von Fremden werde ich beschimpft, wenn ich mit einem Instrument unterwegs bin. Ich weiss, dass ich gefährlich lebe. Und ich fühle mich wirklich nicht wohl, wenn ich auf dem Heimweg bin.
Wie gehen Ihre Eltern damit um?
Meine Mutter sagt immer wieder, mach doch etwas anderes, werde Ärztin oder Ingenieurin, das wäre schon besser als Musikerin. Aber ich will nun mal Musik machen. Und ich will die Türen öffnen für andere Mädchen, die nach mir kommen. Sie sollen es leichter haben.
Wie ist die Situation für die anderen Mädchen in Ihrem Orchester?
Bei allen ungefähr ähnlich. Die meisten haben Probleme mit Verwandten, mit ihren Vätern. Manche wurden von ihren Familien verstossen. Aber wir wissen, was wir wollen.
Wie konnte sich dieses Orchester überhaupt entwickeln an Ihrer Schule?
Früher, also vor meiner Zeit, war es eine Kunstschule; die Musik war nur eine ganz kleine Abteilung. Es gab ein einziges altes Klavier, auf dem oft zwei, drei Kinder gleichzeitig geübt haben – so hat man es mir erzählt. 2010 wurde Ahmad Sarmast Schulleiter, und er hat eine reine Musikschule daraus gemacht; die Kunst ist jetzt anderswo untergebracht. Er hat auch Kontakte zum Ausland geknüpft, zu Lehrern und Geldgebern, und wir bekamen Instrumente: vier oder fünf Klaviere, etliche Geigen.
Die Schule erhält immer wieder Drohungen, weil sie Mädchen aufnimmt. Und bei einem Anschlag in der Nähe wurde Ihr Schulleiter schwer verletzt.
Ja, aber er will genauso wenig aufgeben wie wir. Und die Schule wächst, gerade auch, was die Mädchen angeht: Als ich anfing, waren wir neun. Seither kommen jedes Jahr mehr. Die haben uns vielleicht in Konzerten gehört oder so, und die Eltern bringen sie dann hin.
Sie können mich umbringen, aber ich werde nicht aufhören, Musik zu machen.
Sie können Konzerte geben?
Nur in geschützten Räumen, in Botschaften zum Beispiel oder in der Residenz des Präsidenten. Auch im Fernsehstudio, es wurden schon Konzerte von uns übertragen. Und manchmal laden wir Leute in die Schule ein.
Was sagen Ihre Eltern, wenn sie Sie in einem Konzert hören?
Meine Mutter war noch nie bei einem unserer Konzerte, aber sie hat mich im Fernsehen gesehen. Danach hat sie gesagt, sie sei stolz auf mich. Und sie war erleichtert, dass wir klassische Musik und traditionelle afghanische Stücke spielen. Sie hatte Angst, dass wir an schlimmen Orten auftreten.
In Ihrem Orchester kommen afghanische Instrumente zum Einsatz, aber auch westliche.
Ja, wir spielen, was wir haben. Ich selbst habe angefangen mit der Rubab, einer Art Laute; aber der Lehrer war nicht gut, deshalb habe ich dann zur Sitar gewechselt, einem indischen Instrument. Heute spiele ich im Orchester Klavier und Perkussion.
Und Sie dirigieren: Wie kam es dazu?
Eine Lehrerin fand, ich solle es probieren, es wäre gut für mich. Ich wollte zuerst nicht; ich dachte, ich könne das nicht. Aber sie hat dann meine Hände genommen und mir gezeigt, wie das geht, Viervierteltakt, Dreivierteltakt. Da habe ich sofort Feuer gefangen und beschlossen, dass ich das lernen will. Jetzt bin ich zwar noch Studentin, aber gleichzeitig die erste weibliche Dirigentin in Afghanistan. Darauf bin ich stolz. Ich mag es, wenn die Leute sagen: «Das ist Negin, sie ist Dirigentin.»
Woran denken Sie, wenn Sie dirigieren?
Ich träume davon, dass ich irgendwann vor einem grossen Orchester stehen werde, vor einem nationalen Sinfonieorchester oder so. Vor einem mit Männern und Frauen.
Aber Sie möchten in Afghanistan bleiben? Ich würde gern ins Ausland gehen, um zu studieren; vielleicht nach Italien, wenn das möglich ist. Aber danach möchte ich auf jeden Fall wieder nach Afghanistan zurückkehren. Und von hier aus auch im Westen auftreten.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass das klappt? Die politische Entwicklung in Ihrer Heimat ist derzeit schwer abzusehen.
Es kann sein, dass alles wieder viel schwieriger wird. Es kann auch sein, dass es aufwärtsgeht. Man kann es nicht wissen. Aber ich weiss, dass ich nicht aufgeben werde. Sie können mich umbringen, aber ich werde nicht aufhören, Musik zu machen.
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