«Ich wurde jahrelang für mein Schwulsein stigmatisiert»
In Zürich redet der frühere MTV-Moderator Steve Blame über Pop und Homosexualität – und dabei auch über seine eigene Story, wie man am Telefon merkte.

Steve Blame wurde im Januar 1959 als Stephen James in Chelmsford nordöstlich von London geboren. Von 1987 bis 1994 war er Redaktor/Moderator des damals absolut stilprägenden Musiksenders MTV. In dieser Zeit entwickelte er neue Gefässe (wie «Take the Blame»), war Host der «MTV's Video Music Awards» oder der Anti-Rassismus-Sendung «MTV Free Your Mind», zudem führte er über 500 Interviews mit Musikern und Schauspielern, aber auch mit politischen und religiösen Grössen wie Michael Gorbatschow, Shimon Peres, Jacques Delors oder dem Dalai Lama.
1994 wurde Blame Programmdirektor des neu lancierten deutschen Musikkanals Viva 2, doch bereits zwei Jahre später ging er wegen Unstimmigkeiten mit Sendergründer Dieter Gorny wieder von Bord. Seither lebt er in Köln und arbeitet als Coach, freier Moderator, Buch- und Drehbuchautor sowie Entwickler neuer Sitcoms und TV-Formate (wie der Show «Where Is the Money?»)
Sie wollen am Pink-Apple-Festival in Zürich aufzeigen, dass der 80er-Jahre-Pop für die LGBT-Bewegung von grosser Bedeutung war. Das stelle ich mir ziemlich schwierig vor.
Wieso?
Weil in diesem synthetischen Pop nicht viel anarchistische Energie steckte.
(lacht) Das mag sein. Doch es ging eher um die kreative Befreiung. Also um den Mut von bi- oder homosexuellen Musikern, sich mindestens mal durch optische Extravaganz zu outen. Ich denke da unter anderem an Steve Strange von Visage, Boy George von Culture Club oder Holly Johnson von Frankie Goes to Hollywood. Oder an die Communards, wobei es da auf die schüchterne Weise geschah.
Offiziell geoutet haben sich die genannten Künstler damals aber nicht, oder?
Nein, die meisten schwiegen das Thema lange einfach tot. Besonders extrem war der Fall der Pet-Shop-Boys-Musiker Neil Tennant und Chris Lowe. Sie schwiegen nicht nur, sie liessen die ersten zwei Singles «West End Girls» und «Opportunities» von Bobby «O» Orlando produzieren – das ist meines Wissens eine der homophobsten Personen der ganzen Musikbranche. Doch die Pet Shop Boys waren ja nicht die einzigen schwulen Bobby-O-Kunden, Divine gehörte auch dazu.
Pet Shop Boys – «Opportunities». Video: Youtube
Dennoch gab es in den 80er-Jahren erste Schritte – davor war Outing komplett tabu?
Natürlich nicht, doch es konnte die Karriere zerstören. Elton John beispielsweise hatte sich 1976 im «Rolling Stone»-Magazine als bisexuell geoutet, danach brachen seine Plattenverkäufe in den USA ein ... und das lag nicht nur daran, dass die Songs nicht mehr dem Massengeschmack entsprachen. Als Folge davon hat er sich sozusagen wieder ent-outet, was 1984 auch zur Hochzeit mit seiner Tontechnikerin führte. Dies zog er vier Jahre lang durch, 1988 liess er sich wieder scheiden. Und dann outete er sich endgültig als homosexuell. Traurig. Wobei er sowieso durch die Hölle ging.
Wie meinen Sie das?
Dass er als junger Musiker Anfang der 70er-Jahre mit seinem Manager zusammenlebte, welcher jedoch verhinderte, dass Elton Johns Foto auf seinen ersten Studioalben abgebildet wurde, mit der Begründung, er sei zu wenig attraktiv. Und das als junger Schwuler in einem generell schwulenfeindlichen Milieu, von deinem reiferen Partner. Das ist doch wirklich die Hölle.
Eine Zeitreise: MTV News mit Steve Blame aus dem Jahr 1993. Video: Youtube
Wie verlief Ihre eigene Outing-Geschichte?
Als David Bowie 1972 in einem Interview mit der wichtigen Musikzeitschrift «Melody Maker» sagte, «I'm gay», machte mir das enorm Mut. Es war das erste Mal, dass nicht irgendein Psychopath oder Weirdo, sondern ein anerkannter Künstler das Thema in die Medien gebracht hatte. Bowie war halt auch diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung, sein Outing blieb ein Einzelereignis, das bei ihm sogar dem Kunstkonzept zugerechnet wurde. Meine Geschichte jedoch war jene, welche Bronski Beat in ihrem «Smalltown Boy»-Video zeigen – ich wurde verfolgt und verhauen.
Als sie 1987 bei MTV anfingen, wurde es aber sicher besser. Naja, nicht wirklich. Als mich unser News-Produzent eines Tages zum Mittagessen einlud, liefen wir zusammen durchs Camden-Quartier. Irgendwann liefen zwei Mädchen ans uns vorbei, und da sagte er: «Ah, die würde ich nun am liebsten ficken.» Man muss wissen, dass sein Kokainkonsum damals so immens war, dass das zu einem drastisch übersteigerten Selbstwertgefühl führte. Als die nächsten Girls vorbeigingen, sagte er wieder dasselbe. Irgendwann ging dann ein junger Mann an uns vorbei, worauf ich sagte: «Und ich würde den am liebsten flachlegen.» Nach einer kurzen Pause fragte der Produzent: «Du bist schwul?» Ich bejahte und wollte wissen, ob das ein Problem sei, was er jovial lachend verneinte.
Es war eben doch ein Problem.
Das wars, ja. Ich wurde wenig später in ein Meeting berufen, zu dem die Senderchefs aus den USA zugeschaltet waren. Dabei ging es um die Frage, ob schwul oder lesbisch sein kann, wer bei MTV arbeitete. Zu meiner Verteidigung sagte ich, dass ich meine sexuelle Ausrichtung nicht selbst gewählt habe, sondern dass Gott das für mich entschieden habe – ich war echt feige, wollte diesen Job um jeden Preis behalten.
Was offenbar gelang.
Ja, dank unserer österreichischen Pressefrau Christine Gorham. Sie sagte den Bossen in den USA, im europäischen Fernsehen sei jeder schwul. Die Amerikaner wiederholten das ungläubig, sie bestätigte es ganz trocken und selbstverständlich, zwinkerte mir zu, damit war das Problem fürs Erste erledigt.
Nur fürs Erste?
1988 hatte ich eine Sendung, die hiess «Take the Blame». Mein Co-Host war der 1994 an Aids gestorbene Leigh Bowery. Er war der damals wohl schrillste Performance-Künstler Londons, er entwarf Outfits für Bowie und Boy George und lancierte 1985 die polysexuelle Disco Taboo, eine Art Extremvariante des New Yorker Studio 54. Jedenfalls war einigen MTV-Chefs die Show zu delikat, sprich zu schwul – obwohl wir die Gäste allein nach ihrer Originalität einluden, es waren also auch viele heterosexuelle dabei. Als man mir mitteilte, die Sendung würde abgesetzt, und ich genau wusste, weshalb, machte ich die letzte Show so homosexuell, wie es nur ging: Ich lud die Communards ein, einen Transvestiten, der behauptete, einen lesbischen Hund zu haben, Nina Hagen ...
Nina Hagen? Die ist doch ...
... nicht lesbisch (lacht), ja, das erfuhr ich dann später auch. Jedenfalls wurde ich in der Chefetage wieder zum Thema, was man mir auch sagte. So wurde bei einem Mittagessen in einem Restaurant darüber diskutiert, ob ich noch tragbar sei. Der Kellner, der die Herrschaften bediente, schnappte meinen Namen auf und bemerkte ungefragt: «Steve Blame, der ist klasse.» Man muss wissen, dass es damals noch keine professionellen Erhebungen über Einschaltquoten gab. Deshalb dachten die Bosse, ich müsse wohl doch noch beliebt sein, wenn gar ein Kellner aktiv für mich wirbt. Was sie mir dann auch sagten: «Du kannst bleiben, du bist offenbar ziemlich populär.»
Wieder hatte eine einzige Stimme Ihren Job gerettet. Aber wie hatten Sie die Story überhaupt erfahren?
Das ist überhaupt der Clou an der Sache: Mit diesem Kellner hatte ich kurz vor dem Restaurantbesuch der MTV-Bosse eine Bettgeschichte gehabt. Und als wir uns rund eine Woche später wieder sahen, erzählte er mir das Vorkommnis, und so konnte ich eins und eins zusammenzählen. (lacht)
Irgendwie absurd lustig, irgendwie aber auch ziemlich tragisch.
Stimmt. Und dasselbe gilt auch fürs Jahr 1992. Da hatte man plötzlich gemerkt, dass man mit dem Thema Homosexualität vermutlich ganz gut Quote machen könnte. So fragten sie mich, ob ich eine Sendung machen würde, zu der ich exklusiv schwule oder lesbische Prominenz befragen würde.
Sie sagten ab.
Klar sagte ich ab. Die MTV-Leute hatten mich jahrelang dafür stigmatisiert, dass ich schwul bin ... und nun wollten sie exakt aus diesem Umstand Profit schlagen. So was ist doch krank.
Krank mutet auch die Homophobie von Politikern wie Erdogan, Putin oder Trump an. Befürchten Sie, dass gar westliche Gesellschaften wieder in die «Steinzeit» zurückkehren könnten?
Nein, das denke ich nicht. Doch diese Männer und ihre Ansichten zur LGBT-Bewegung bereiten mir Sorgen, keine Fragen. Allerdings möchte ich daran erinnern, dass das politische Klima Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre auch erzkonservativ war, als Figuren wie Thatcher, Reagan oder Breschnew an der Macht waren. Und damals hat das, wie eingangs dieses Gesprächs erwähnt, zu einer starken kreativen Energie geführt. Womöglich passiert ja diesmal wieder etwas Vergleichbares, auch wenn die LGBT-Bewegung heute natürlich an einem ganz anderen Punkt steht.
Pink Apple, 26. April bis 4. Mai. www.pinkapple.ch.
Vortrag von Steve Blame, Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13, Freitag, 28. April, 19 Uhr. Der Eintritt ist gratis.
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