
So ist es, wenn ein ganzer Bahnhof zu einem grossen Wartesaal wird. Es sind fast ausschliesslich junge Männer, die entlang der Balustraden kauern oder auf den Bänken sitzen. Einige stehen in Gruppen zusammen, andere schauen auf ihre Handys, als warteten sie auf Anweisungen. Der Brüsseler Nordbahnhof ist Zwischenstation für Migranten aus Nordafrika, meist auf dem Weg Richtung Grossbritannien.
Dazwischen Pendler, die sich in den Hallen zwischen den Migranten, leeren Ladenlokalen und den Schaufenstern der Fast-Food-Ketten ihren Weg suchen. Es sind zwei Welten, die aufeinanderprallen. Der heruntergekommene Nordbahnhof ist auch ohne die fremden Passagiere kein Ort, auf den Brüssel stolz sein kann. Im Rücken die Misere des Brüsseler Rotlichtviertels, über den Gleisen ein halb verwaistes Bürogebäude im billigen Baustil der 70er.
In einer der Etagen hat sich Mehdi Kassou mit seinen Mitstreitern einquartiert. Eine grosse Versicherung hat der Bürgerplattform, die sich um die Gestrandeten vom Nordbahnhof kümmert, die Räume kostenlos zur Verfügung gestellt. Der 34-Jährige mit dem kahl geschorenen Kopf ist Protagonist in einer hitzigen Debatte über den Umgang mit Flucht und Migration, die nicht nur Belgien, sondern ganz Europa spaltet.
«Brüsseler des Jahres»
Der Belgo-Marokkaner ist von der Zeitung «Le Soir» und anderen frankofonen Medien gerade erst für seine Rolle als Kopf der Bürgerplattform zum «Brüsseler des Jahres 2017» gewählt worden. Seinen lukrativen Job bei einem grossen Telekommunikationsunternehmen hat Mehdi Kassou bereits im Jahr 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise –geschmissen. Er begann, sich vollamtlich um die Gestrandeten am Nordbahnhof zu kümmern. Damals mussten er und seine Mitstreiter noch mit Zelten und Schlafsäcken improvisieren. Heute ist die Bürgerplattform ein eingespieltes Kleinunternehmen. Aus den Hallen des Bahnhofs geht es im Fahrstuhl hoch zu den Büros. Auch dort herrscht Gedränge in den Gängen und im Vorzimmer. Die Plattform sieht sich als Hub für alle möglichen Dienstleistungen, von der Rechtshilfe bis zur psychologischen Beratung.
«Wir versuchen den Flüchtlingen den Mythos der Destination Grossbritannien auszureden», sagt Mehdi Kassou. Viele der Gestrandeten wollen nach Grossbritannien, weil sie dort Verwandte haben oder in der Hoffnung auf einen Job. Und dann ist es dort einfacher unterzutauchen, weil es keine Identifikationspflicht gibt. Seit die Franzosen den sogenannten Dschungel von Calais mit dem improvisierten Flüchtlingslager in Sichtweite des Ärmelkanals geräumt haben, ist die Reise aber noch schwieriger und riskanter geworden. Mehdi Kassou und seine Mitstreiter versuchen deshalb die Flüchtlinge dazu zu überreden, in Belgien Asyl zu beantragen.
Eine lange Odyssee hinter sich
Einige unten im Bahnhof haben allerdings in anderen Ländern bereits ablehnende Entscheide kassiert. Rund 500 Migranten und Asylsuchende sind es, die sich tagsüber dort regelmässig aufhalten. Viele stammen aus dem Sudan, andere aus Äthiopien oder Eritrea. Die meisten haben eine lange Odyssee hinter sich, manchmal mit längerem Zwangsaufenthalt in einem der berüchtigten Camps in Libyen. Man kann aber auch auf Eritreer treffen, deren Asylgesuch schon in der Schweiz oder in Deutschland abgewiesen wurde. Und immer wieder komme die Bitte nach Tipps, wo man am besten heimlich auf einen Lastwagen Richtung Grossbritannien klettern kann.
Für andere kommt ein Asylantrag in Belgien nicht infrage, weil ihre Fingerabdrücke schon in Italien registriert sind. Mehdi Kassou und seine Bürgerplattform appellieren deshalb an die belgische Föderalregierung, auf Abschiebungen nach Italien zu verzichten beziehungsweise die entsprechende Regel des Dubliner Asylabkommens temporär ausser Kraft zu setzen.
Am Nordbahnhof in Brüssel wiederholen sich jeden Abend dieselben Szenen.
Belgien tut sich schwer mit seiner Rolle als Durchgangsstation und Flaschenhals für Migranten. Von denen viele weder vorwärts noch rückwärts einen Ausweg haben. Gegenspieler von Mehdi Kassou ist Theo Francken, Staatssekretär für Asyl und Migration der Föderalregierung. Francken empfängt zwischen zwei Terminen im Bundesparlament unter schweren Lüstern und zwischen Porträts belgischer Könige. Auch der 40-jährige Politiker von der Neuen Flämischen Allianz ist populär, vor allem in Flandern. Und zwar für seine harte Linie in der Migrationskrise. Nein, die Aussetzung von Dublin kommt für ihn nicht infrage. Den «Fehler» von Angela Merkel wolle er nicht wiederholen. Gemeint ist der Entscheid der deutschen Bundeskanzlerin von 2015, syrische Asylsuchende vorübergehend nicht ins Erstankunftsland Griechenland zurückzuschicken.
Doch was sagt der Staatssekretär zur Misere am Nordbahnhof? Wer Asyl beantrage, habe Anspruch auf Unterkunft, Betreuung und Verpflegung: «Das Problem ist, das die Migranten im Nordbahnhof keinen Asylantrag stellen wollen.» Und im Gesetz sei schliesslich nicht vorgesehen, dass der Staat Unterkünfte für irreguläre Migranten auf der Durchreise zur Verfügung stellen müsse. Und würde der belgische Staat das trotzdem tun, wäre das eine Einladung an noch mehr irreguläre Migranten, in Brüssel Station zu machen, sagt Francken.
Zweimal pro Woche schickt der Staatssekretär seine Leute im Bahnhof vorbei, um Gestrandete dort zu überzeugen, doch einen Asylantrag in Belgien zu stellen. Mit wenig Erfolg, wie Francken eingesteht. Kein Wunder, denn am Bahnhof finden sich Leute, deren Asylgesuch entweder anderswo schon abgelehnt wurde oder die wissen, dass sie als irreguläre Migranten ohnehin keine Chance auf Schutz haben. Nicht in Ordnung findet der flämische Politiker, dass die Asylsuchenden ihr Ziel selber auswählen wollten. Im Gesetz sei nun mal vorgesehen, dass das Erstankunftsland für das Verfahren zuständig sei. Belgien werde den Migranten sicher nicht helfen, nach Grossbritannien zu gelangen. Im Gegenteil, die belgische Polizei arbeitet eng mit den Briten zusammen. Und zwar schon dort, wo sich Migranten an Raststätten entlang der E 40 Richtung Küste in Lastwagen auf dem Weg nach Grossbritannien verstecken wollen. Es gehe da um Schutz für die Migranten, aber auch um die Sicherheit der Lastwagenfahrer.
Geste der Solidarität
Am Nordbahnhof wiederholen sich jeden Abend dieselben Szenen. Die Freiwilligen von der Brüsseler NGO Belgium Kitchen kommen vorbei und verteilen warme Mahlzeiten. Später zieht ein Grossteil der Migranten zum nahen Parc Maximilien. Dort ist der Treffpunkt mit Einheimischen, die für eine Nacht ein Bett, eine Dusche und Verpflegung anbieten wollen. Vielen geht es um eine Geste der Solidarität mit den Gestrandeten, aber auch um ein Zeichen gegen die Regierung und deren harten Kurs. Es kann ein bis zwei Stunden dauern, bis man einen Flüchtling nach Hause nehmen kann. Die Leute von der Bürgerplattform vermitteln in der Dunkelheit des Parks zwischen potenziellen Gastgebern und Migranten.
Er persönlich, sagt Theo Francken, habe nichts dagegen, wenn Belgier Migranten beherbergten. Er finde das im Gegenteil menschlich und sympathisch. Der Staatssekretär hat allerdings auch schon mit der Aussage für Furore gesorgt, er werde den Parc Maximilien «säubern». Der Staatssekretär von den flämischen Nationalisten weiss, dass eine Politik der harten Hand bei einer Mehrheit der Bevölkerung gut ankommt. Doch auch Gegenspieler Mehdi Kassou kann seine Leute mobilisieren, wenn das Gerücht von einer drohenden Polizeiaktion die Runde macht. Kritiker im Polizeiapparat, so der Flüchtlingshelfer, informierten die Bürgerplattform immer rechtzeitig über bevorstehende Razzien am Bahnhof oder im Park. Eine Lösung für die Migranten auf Durchreise ist nicht in Sicht.
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Im Flaschenhals
Belgien tut sich schwer mit seiner Rolle als Durchgangsstation für Migranten, unterwegs von Nordafrika nach Grossbritannien.