Nach Präsidentenmord in Haiti Immer neue Verhaftungen, immer neue Rätsel
Noch immer ist unklar, wie und warum Staatschef Jovenel Moïse ermordet wurde. Doch die Hintermänner könnten in den höchsten Positionen des Landes sitzen.

Die Polizei in Haiti hat nun den Chef der sogenannten Palastwache festgenommen. Er war unter anderem für die Sicherheit des letzte Woche ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse verantwortlich und könnte, so der Vorwurf, zusammen mit anderen den Tod des Staatschefs geplant haben. Eineinhalb Wochen nach dem Mord vergrössert sich so abermals der Kreis der Verdächtigen, ebenso wie auch die Zahl der Verhafteten.
Allerdings ergeben sich auch immer weitere Fragen: nach dem Tathergang, den Motiven, den Hintergründen, den Hintermännern. Genauso wie auch danach, wie es denn nun weitergehen soll mit Haiti, diesem bitterarmen Karibikstaat, zermürbt von Gewalt und Katastrophen. Nun ist er auch noch führungslos. Ein Machtkampf droht zu entbrennen zwischen potenziellen Nachfolgern des Präsidenten.
Ermittler aus den USA und Kolumbien
Gleichzeitig wird weiter nach seinen Mördern gesucht. Mittlerweile bekommt die haitianische Polizei dabei auch Hilfe von Ermittlern aus den USA und Kolumbien. Dazu werden die Untersuchungen aber auch von Zeitungen, Magazinen und Fernsehsendern aus der ganzen Welt begleitet. Aus dem Präsidentenmord droht eine True-Crime-Serie zu werden, ein Krimi in Echtzeit. So warb die kolumbianische Zeitschrift «Semana» am Freitag mit «exklusiven» und «schockierenden» Bildern von Moïse, aufgenommen nur Minuten nach seinem Tod.
Inmitten von Gerüchten, Anschuldigungen, Theorien und Halbwahrheiten können dabei bisher nur wenige Dinge als gesichert gelten: Präsident Jovenel Moïse starb Mitte vergangener Woche, höchstwahrscheinlich in seiner Privatresidenz. Zuvor war eine Gruppe schwer bewaffneter Männer in das Gebäude eingedrungen. Später wurde Moïses von Schusswunden übersäter Leichnam gefunden.

Die vermutlichen Attentäter konnten den Tatort zunächst anscheinend unbehelligt wieder verlassen. Kurz darauf trafen sie dann aber wohl auf eine Strassensperre. Es kam zu einem Feuergefecht mit einer grösseren Anzahl von Polizisten und Soldaten. Einige der Angreifer wurden dabei erschossen, anderen gelang die Flucht, mehr als zwei Dutzend Männer konnten aber auch festgenommen werden.
In der Mehrzahl handelt es sich bei ihnen um ehemalige Soldaten aus Kolumbien. Das südamerikanische Land hat sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Ziel für private Sicherheitsfirmen aus der ganzen Welt entwickelt. Durch einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg gibt es viele gut ausgebildete Kämpfer, die aber teilweise so gut wie arbeitslos sind, nachdem die Regierung vor knapp fünf Jahren mit einer der grössten Guerillagruppen des Landes einen Friedensvertrag geschlossen hat.
Sie trafen auf keinerlei Gegenwehr: Keiner der Leibwächter des Präsidenten wurde verletzt.
Eine private Sicherheitsfirma mit Sitz in Florida soll schon vor Monaten begonnen haben, in Kolumbien neue Mitarbeiter für eine Mission zu rekrutieren. Mehrere Tausend Dollar pro Monat sollen dabei als Sold geboten worden sein, und laut Textnachrichten, die der «New York Times» vorliegen, wurde den Männern gesagt, sie wären am «Wiederaufbau eines Landes» beteiligt.
Über die Dominikanische Republik reisten sie dann nach Haiti ein, kaum 48 Stunden später sassen sie mit Handschellen gefesselt auf dem Boden einer Polizeiwache, verhaftet und unter Verdacht, niemand Geringeres getötet zu haben als den Präsidenten des Landes.
Haitis Behörden feierten die Festnahme als Erfolg, bald aber ergaben sich Fragen: Wie hatten es die Männer geschafft, in das eigentlich schwer bewachte Haus von Moïse einzudringen? Sie trafen dabei anscheinend auf keinerlei Gegenwehr: Keiner der Leibwächter des Präsidenten wurde verletzt, angeblich haben sie nicht einmal Schüsse abgefeuert.

Gleichzeitig soll ein Teil der festgenommenen Angreifer ausgesagt haben, Moïse sei schon tot gewesen, als sie am Tatort eintrafen. Zu allem Überfluss wies der Leichnam laut Aussagen eines Ermittlers auch noch Spuren von schweren Schlägen auf Arme und Beine auf, eventuell die Folgen von Folter. Und wenige Tage nach der Verhaftung der kolumbianischen Söldner nahm die Polizei in Haiti dann auch noch einen Mann fest, der zuvor in Florida als Arzt und Prediger gearbeitet hatte und angeblich auf die Insel gekommen war, um die Macht im Land zu übernehmen. Dort allerdings war er vollkommen unbekannt, und es ist unklar, wie er es hätte schaffen sollen, nach einem Putsch Militär und Polizei auf seine Seite zu bringen.
Doch so verworren die Situation auch ist, so klar ist mittlerweile eines: Selbst wenn die Kolumbianer das Staatsoberhaupt Haitis ermordet haben, hatten sie dabei Hilfe von Komplizen und diese wiederum höchstwahrscheinlich Zugang zum engeren Umfeld des Präsidenten. Dies legt auch die Verhaftung von Moïses Sicherheitsberater diese Woche nahe.
In ein weites Korruptionsnetzwerk verstrickt
Es ist also möglich, dass die Hintermänner des Mordes in den allerhöchsten Positionen des Landes sitzen. Jovenel Moïse war höchst umstritten. Nachdem er 2015 eine Wahl gewonnen hatte, deren Ausgang so umstritten war, dass sie ein Jahr später noch einmal wiederholt werden musste, trat er 2017 sein Amt an. Während seiner Präsidentschaft mehrten sich Hinweise darauf, dass der ehemalige Bananen-Exporteur in ein weites Korruptionsnetzwerk verstrickt war. Gleichzeitig regierte er immer autoritärer, die letzten eineinhalb Jahre sogar ausschliesslich per Dekret: Weil Wahlen immer wieder verschoben worden waren, gab es kein funktionstüchtiges Parlament mehr.
Noch am Tag vor seinem Tod hatte Moïse gerade wieder einen Premierminister entlassen. Dessen Nachfolger aber war noch nicht vereidigt. Die Frage ist nun, wer der beiden Männer Anspruch darauf hat, das Land als Übergangspräsident zu führen – und ob dieser überhaupt legitim ist. Denn laut Verfassung könnte die Aufgabe auch dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs obliegen. Der allerdings ist erst vor wenigen Wochen an Covid-19 gestorben.
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